Flut: Roman (German Edition)
wahrscheinlich, dass sie beide auch den gleichen Halluzinationen erlagen. Wahrscheinlich machte er sich nur Sorgen, dass die Dunkelheit zu schnell hereinbrach und sie hier draußen überraschte.
Und diese Sorge war durchaus berechtigt. Sie würden die Berghütte nicht mehr bei Tageslicht erreichen, das war ihr plötzlich klar. Die Vorstellung, bei Dunkelheit durch diesen unheimlich veränderten Wald zu marschieren, machte anscheinend nicht nur ihr Angst.
Rachel blieb stehen. »Warte.«
Benedikt hielt gehorsam an und drehte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihr herum.
Obwohl sie wusste, dass es ihn verletzen würde, zögerte sie noch einmal, vielleicht einmal zu oft. Benedikts Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Diesmal auf eine Art, die sie zuvor noch nie an ihm bemerkt hatte.
»Wir müssen nach rechts.« Rachel deutete auf den schmalen Trampelpfad, der von dem kaum breiteren Hauptweg abzweigte. Benedikts Blick folgte der Geste, aber sein Gesicht spiegelte im ersten Moment nur Verständnislosigkeit – und ein latentes Misstrauen, das Rachel sehr wohl verstehen konnte, denn sie hatte es sich reichlich verdient, das ihr aber trotzdem wehtat und sie auch ein bisschen ärgerte.
»Was soll da sein?«, fragte er.
»Vertrau mir einfach«, antwortete Rachel. »Komm.«
Das war vermutlich auch ein Fehler. Aus dem Misstrauen in seinem Blick wurde Ärger und einen Sekundenbruchteil später blanke Wut. Sie trat an ihm vorbei, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dieser auf so unheimliche Weise veränderte Wald sie nicht ebenfalls narrte, und trat hinter dem abgestorbenen Baum, der als Markierung diente, auf den abzweigenden Trampelpfad – der im Grunde nur noch theoretisch vorhanden war. Sie verstand Benedikts Misstrauen plötzlich besser. Es war drei Wochen her, dass sie diese Abzweigung das letzte Mal genommen hatte, aber ihre Umgebung hatte sich so radikal verändert, dass nicht einmal sie mehr sicher war, sich wirklich auf dem richtigen Weg zu befinden. Aus dem Wald war ein Skelett geworden, das nicht nur alles Fleisch und Blut, sondern auch etliche Knochen eingebüßt hatte. Der vom Blitz gespaltene und schon halb versteinerte Baum, der ihr als Wegmarkierung diente, war schon früher verkrüppelt und tot gewesen, ein geschwärzter und nahezu versteinerter Leichnam, der sich nicht verändert hatte, aber die Welt dahinter hatte nichts mehr mit der gemein, die sie kannte. Der Trampelpfad hatte sich nicht einfach nur verändert, er war nicht mehr da und selbst die Stellung der Bäume und Büsche zueinander schien nicht mehr die gleiche zu sein. Schon nach wenigen Schritten war Rachel nicht mehr sicher, noch auf dem richtigen Weg zu sein, und nach zwei Dutzend weiteren war sie nahezu sicher, es nicht mehr zu sein.
Dabei hatte sich der Wald gar nicht wirklich verändert. Hier und da hatte der Wind einen Ast abgebrochen und einmal mussten sie über einen gestürzten Baum hinwegsteigen, dessen Wurzeln vom Regen aus dem Boden herausgewaschen worden waren, bis er unter seinem eigenen Gewicht einfach zur Seite gefallen war, aber darüber hinaus beschränkten sich die Veränderungen auf die fast völlige Entlaubung des Waldes und auf die Tatsache, dass es so gut wie kein Erdreich mehr gab.
Und keine Spur von Leben mehr. Selbst die Baumstämme waren wie bizarre Skulpturen aus grauem Eisen, so hart, dass selbst der Gedanke abwegig schien, dass sie jemals lebendig gewesen sein sollten. Es gab keinen anderen Laut als das Rauschen des Regens und das permanente Geräusch des Windes, und erneut und diesmal mit ungleich größerer Gewissheit wurde ihr klar, dass sie gleichsam einen Blick in die Zukunft tat, in eine Zeit, in der die menschliche Spezies nicht nur längst vergangen, sondern vollkommen vergessen sein würde. Die Hölle bestand nicht aus brennender Erde und Feuerregen, sondern aus totem, hartem Gestein und sterilem Regen.
Bis zum letzten Moment war sie nicht einmal sicher, dass sie sich nicht doch verirrt hatten, aber endlich lichteten sich die Schatten, wenn auch nur um eine Nuance, so wenig, dass sie die Veränderung unter normalen Umständen nicht einmal dann zur Kenntnis genommen hätte, hätte sie danach gesucht. Sie trat von einer Dämmerung in die andere, kaum hellere hinaus, blieb erleichtert stehen und atmete hörbar auf.
Dabei hatte sie eigentlich keinen Grund dazu. Rein instinktiv schien sie dem Verlauf des Trampelpfades zwar überraschend genau gefolgt zu sein, aber dort, wo eigentlich der Bach
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