Flut: Roman (German Edition)
so.«
»Bisher?« Benedikt sagte nichts weiter, aber das war auch nicht nötig. Er seufzte. »Man gönnt sich ja sonst nichts. Bleib hier.« Rachel hatte nicht vorgehabt, irgendwo hinzugehen, aber ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie sah, dass Benedikt nicht dem Waldrand folgte, wie sie erwartet hatte, sondern langsam und mit einem Ausdruck höchster Konzentration direkt ins Wasser hineintrat.
Ihre Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Obwohl das Wasser ihm kaum bis zu den Knöcheln reichte, konnte sie sehen, welche Kraft es ihn kostete, nicht sofort von den Füßen gerissen zu werden. Das scheinbar so ruhig dahinfließende Wasser brach sich schäumend an seinen Knöcheln und bildete winzige Wirbel und Strudel, und sie sah, dass er jedes Mal den Fuß aufsetzte und ein paar Mal hin und her bewegte, um sicheren Stand zu haben, ehe er den nächsten Schritt wagte. Sie konnte Benedikts Gesicht nicht sehen, aber seine Haltung war angespannt und er bewegte sich eher wie ein Roboter als wie ein lebendes Wesen. Langsam und mit äußerster Vorsicht näherte er sich dem hölzernen Kruzifix, wobei er nicht nur immer langsamer wurde, sondern auch immer tiefer ins Wasser trat, das ihm erst bis zu den Waden, schließlich bis zu den Knien reichte. Es gab einen gefährlichen Moment, als er einmal ausglitt und nur im letzten Augenblick und mit großer Anstrengung sein Gleichgewicht wiederfand, aber schließlich hatte er das Kruzifix erreicht und streckte die Hand danach aus. Rachel verstand nicht, was er tat, und als sie es endlich verstand, verstand sie nicht, warum er es tat: Benedikt begann mit beiden Händen an dem hölzernen Kreuz zu rütteln und löste es zwar langsam, weil er auch dabei streng darauf achtete, sich nicht selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber ohne große Mühe aus dem Boden. Nachdem er es zwei oder drei Minuten in immer größer werdenden Pendelbewegungen nach rechts und links gedrückt hatte, verlor es endgültig seinen Halt und wurde ihm schließlich von der Strömung aus den Händen gerissen.
Irgendetwas in Rachel schien sich zusammenzuziehen, als sie sah, wie das hölzerne Kruzifix ins Wasser eintauchte, nach ein paar Metern wieder durch die schmutzige, braune Oberfläche brach und sich allmählich zu drehen begann, während es immer schneller von der Strömung davongetragen wurde. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer streng katholischen Erziehung hielt sie nicht viel von Heiligenstatuen und sakraler Kunst. Sie schätzte und respektierte vieles davon, weil es sich manchmal um großartige Kunstwerke handelte und sie für viele Menschen eine ganz besondere Bedeutung hatten, aber sie selbst hatte diesem Kreuz niemals irgendwelche Gefühle entgegengebracht. Soviel sie wusste, stand es seit mindestens hundert Jahren hier, vielleicht länger, und selbst im Dorf unten wusste niemand mehr, wer es aufgestellt hatte oder warum. Dennoch hatte sie für einen Moment das fast schmerzhaft intensive Gefühl, dass Benedikt einen Frevel begangen hatte, der nicht ungesühnt bleiben würde.
Gottes Strafe traf ihn jedoch zumindest nicht sofort. Etwas schneller als zuvor, aber ebenso vorsichtig, breitbeinig und mit weit ausgebreiteten Armen, um die Balance zu halten, kam er zu ihr zurück und trat mit einem hörbar erleichterten Seufzer wieder auf den steinernen Waldboden hinauf. »Es stand auf dieser Seite«, sagte er mit einem raschen, angedeuteten Grinsen.
»Du hättest das nicht tun sollen«, murmelte Rachel.
»Wenn es dir als Wegweiser dient, dann anderen vielleicht auch«, erwiderte Benedikt.
Das war also der Grund, weshalb er dieses enorme Risiko auf sich genommen hatte. Aber nicht der Grund für Rachels Worte. Sie sah eine Sekunde lang in sein Gesicht hinauf, dann in die Richtung, in der das Kreuz verschwunden war. Nach einem Moment entdeckte sie es. Es war nur vierzig oder fünfzig Meter weit den Bach hinunter getrieben und hatte sich in den entlaubten Zweigen eines Gebüsches verfangen, das halb aus dem Wald heraus- und in den Bach hineinragte; eine tausendfingrige dürre Hand, die der Wald ausgestreckt hatte, um die ertrinkende Maria zu retten.
»Du glaubst, dass sie … auch hierher kommen?«
»Wenn die Leute unten im Dorf wissen, dass deine Freundin in dieser Berghütte lebt, dann wissen es die anderen auch«, sagte Benedikt. »Und dann kennen sie auch diesen Weg.«
»Niemand wäre so verrückt, hier entlangzugehen«, erwiderte Rachel. »Nicht jetzt.«
»Wir sind
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