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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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plötzlich kein brodelndes Wasser mehr, sondern schlammbedeckter Waldboden, aus dem halb herausgerissene Wurzeln wie erstarrte schwarze Schlangen ragten.
    Und das Kruzifix mit der Madonnenstatue.
    Rachel starrte die geschändete Reliquie fast eine Minute lang völlig verständnislos und mit einem Gefühl eisigen Entsetzens an. Das Kreuz lag halb im Wasser. Die unteren beiden Drittel waren in den brodelnden Fluten verschwunden, die mit aller Kraft daran zerrten und zahllose winzige Strudel bildeten, spritzende Schaumgeysire, mit denen das Wasser seiner Wut Luft machte. Der Querbalken und das obere Stück hatten sich in Schlamm und frei gespülten Wurzeln verfangen und Rachel lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ihr klar wurde, dass die geschnitzte Marienstatue in ganz genau der gleichen Haltung auf dem Ufer lag, in der auch sie vorhin dagelegen hatte: bis zu den Hüften im Wasser, Oberkörper, Kopf und Schultern in Morast und Wurzelwerk verfangen. Eine Laune des Zufalls (Zufall?) wollte es, dass die Wolkendecke in diesem Moment aufriss und bleiches Licht das Gesicht der Marienstatue beschien. Der Ausdruck darauf war traurig, auf eine resignierende Art ergeben und bar jeglicher Hoffnung. Das Gesicht, in das sie blickte, war nicht das der Mutter Gottes, sondern das einer Frau, die jegliche Zuversicht verloren hatte und wusste, dass es so etwas wie Hoffnung nicht mehr gab.
    Rachel verscheuchte auch diesen Gedanken, aber es fiel ihr sehr schwer. Natürlich war es Unsinn. Was vor ihr lag, war ein Stück Holz, das irgendein längst vergessener Künstler vor fünfzig oder vielleicht auch zweihundert Jahren in eine Form gebracht hatte, die einzig vom Zufall und von den Grenzen seiner künstlerischen Fähigkeit diktiert waren. Nicht mehr und nicht weniger. Es hatte nichts mit ihr zu tun.
    Wieder rief sie Benedikts Namen, aber sie bekam auch jetzt keine Antwort. Doch etwas anderes geschah. Etwas, das ihr abermals einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte:
    Das Kruzifix bewegte sich.
    Mit einem deutlichen Laut zerrissen einige der dürren Äste, die es bisher gehalten hatten, und das zersplitterte untere Ende des Kreuzes deutete plötzlich nach rechts, wie eine geschnitzte Hand, die auf ihren Ruf antwortete und ihr die Richtung wies.
    Für einen Moment drohte sie in Hysterie zu geraten. Die Dunkelheit, die sie umgab, ballte sich zusammen und stürmte aus allen Richtungen auf sie ein, und ein Gefühl reiner Panik begann sich in ihren Gedanken breit zu machen, um auch noch den letzten Rest von Vernunft zu verschlingen, der ihr geblieben war. Wäre der Erzengel Gabriel in diesem Moment in einer Woge aus reinem weißem Licht vor ihr erschienen und hätte ihr den Weg gewiesen – es hätte sie nicht mehr erschrecken können.
    Und es wäre nicht absurder gewesen.
    Rachel ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass es wehtat, hob die Arme und schlug sich zwei, drei Mal vor die Stirn. Eine ebenso lächerliche Reaktion auf ihre genauso lächerlichen Gedanken – aber sie half. Für eine Sekunde sah sie sich selbst so, wie ein imaginärer außenstehender Betrachter sie gesehen hätte, und dieses Bild war so absurd, dass es sie in die Wirklichkeit zurückbrachte. Sie stand am Ufer eines Wildbachs, der nach drei Wochen Dauerregen und vielleicht einem Dammbruch weiter oben in den Bergen zu einem tosenden Strom angewachsen war, begann an Engel und sprechende Marienstatuen zu glauben und deutete es als ein Wunder, dass ein Stück Holz, das halb im Wasser lag, sich mit der Strömung bewegte. Es war vollkommen lächerlich. Natürlich deutete das losgerissene Ende des Kruzifixes in die Richtung, in die das Wasser floss – die gleiche Richtung, in der sie Benedikt finden würde – in der sie ihn finden musste! –, wenn ihn die Strömung ergriffen und mit sich gerissen hatte. Daran war absolut nichts Übernatürliches. Oder gar Göttliches.
    Die gedankliche Übung, so albern sie sein mochte, half. Sie begriff endgültig, dass das einzige Außergewöhnliche, das hier vorging, in ihrem eigenen Kopf passierte. Sie war immer und mit Recht stolz auf ihre Vernunft und ihren kühlen Verstand gewesen. Vielleicht war es an der Zeit, beides wieder aus seinem Versteck zu holen und zu benutzen.
    Vorsichtig, mit ausgestreckten Händen und halb geschlossenen Lidern, sich viel mehr auf ihr Gehör und ihren Tastsinn als auf ihre im Moment ohnehin fast nutzlosen Augen verlassend, ging sie weiter und erreichte nach einem Dutzend Schritten die

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