Flut: Roman (German Edition)
Rachel sah erschrocken hoch und auch der Mann mit der Pistole fuhr herum und richtete instinktiv zugleich seine Waffe wie auch den Lichtstrahl seines starken Scheinwerfers auf ihr Gesicht. Rachel hob geblendet die Hand vor die Augen, sah aber trotzdem, wie er erschrocken zusammenfuhr, und war für den Moment nahezu hundertprozentig sicher, dass er im nächsten Augenblick abdrücken würde. Stattdessen erstarrte er. Seine Augen – der einzige Teil seines Gesichtes, den sie im schwachen Widerschein des Lichtstrahls auf dem Wasser erkennen konnte – weiteten sich vor Entsetzen, aber ihr Blick war nicht auf sie gerichtet, sondern auf irgendetwas hinter ihr.
Rachel drehte sich alarmiert herum – und erstarrte ebenfalls.
Die Dunkelheit hinter ihnen war zum Leben erwacht und hatte sich zu einer Mauer zusammengeballt, die in rasender Geschwindigkeit auf sie zukam. Gleichzeitig nahm das Zittern des Bodens explosionsartig an Heftigkeit zu und das unheimliche Grollen und Tosen hatte jetzt den Lärmpegel einer heranrasenden Lawine erreicht.
Es war nichts anderes als Wasser. Irgendwo weit über ihnen hatte der auf das Zehnfache seiner eigentlichen Größe angeschwollene Bach endgültig sein Bett verlassen und sich mit Urgewalt einen neuen Weg gesucht, und die Wasserwand bewegte sich rasend schnell und unaufhaltsam auf sie zu. Für Rachel war es für einen Moment, als wäre die Zeit stehen geblieben, jede Sekunde dehnte sich zu einer Ewigkeit, jeder Herzschlag schien eine Stunde nach dem vorherigen zu kommen, in Wahrheit aber blieb ihr kaum genug Zeit, um überhaupt zu begreifen, was geschah. Die Flutwelle raste heran, riss sie von den Füßen und gleichzeitig herum, warf sie in die Höhe und schleuderte sie in weitem Bogen über die Kante des Wasserfalls hinaus und ins Nichts. Sie wusste nicht, ob sie schrie. Wenn ja, dann verschlang das Dröhnen und Zischen des kochenden Wassers jeden anderen Laut, aber sie sah einen Schatten und ein sich ununterbrochen überschlagendes und rasch blasser werdendes Licht irgendwo neben sich – die Taschenlampe des Bewaffneten, der genau wie sie vorn Wasser ergriffen und davongeschleudert wurde, dann schlug die Welt einen zigfachen Salto vor ihren Augen und sie wurde mit solcher Gewalt ins Wasser und tief unter seine Oberfläche gedrückt, dass sie fast das Bewusstsein verloren hätte.
Der Bach war an dieser Stelle nicht besonders tief, nicht einmal jetzt, da er so viel mehr Wasser führte. Sie hatte Glück und prallte mit dem Rücken auf dem Boden auf, der zwar schlammbedeckt, aber nicht annähernd so weich war, wie man hätte erwarten können. Der Schmerz ließ bunte Sterne vor ihren Augen explodieren und sie atmete instinktiv aus und sah trotz des Chaos, in dessen Zentrum sie sich befand, ihre kostbare Atemluft wie einen Vorhang aus silbernen Perlen vor ihrem Gesicht in die Höhe entschwinden. Etwas stach wie eine stumpfe Messerklinge in ihren Rücken, aber dieser grässliche Schmerz rettete ihr vielleicht das Leben, denn er riss sie in die Wirklichkeit zurück. Sie begann instinktiv Schwimmbewegungen zu machen, die in dem tobenden Wasser zwar vollkommen sinnlos waren, ihr aber zumindest das Gefühl gaben, sich zu wehren, etwas zu tun.
Desorientierung war ein weiterer Feind, dessen sie sich bisher gar nicht bewusst gewesen war. Ihr Gleichgewichtssinn existierte praktisch nicht mehr. Sie machte verzweifelt Schwimmbewegungen und begriff mit jähem Entsetzen, dass sie dabei war, sich noch tiefer ins Wasser hinein zu bewegen, als ihre Hände plötzlich über rauen Stein scharrten. Obwohl sie erst seit wenigen Augenblicken unter Wasser war, war die Atemnot schon fast unerträglich. Mit der schieren Kraft reiner Todesangst warf sie sich herum, schlug mit Armen und Beinen um sich und brach endlich durch die Wasseroberfläche; den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie so weit gewesen wäre, einfach aufzugeben und den Mund zu einem letzten, tödlichen Atemzug zu öffnen. Auch so schluckte sie noch eine Menge schmutziges, eiskaltes Wasser, aber sie füllte ihre Lungen auch mit genug Sauerstoff, um die nächsten Sekunden überleben zu können.
Doch sie war nicht sicher, dass es noch sehr viel mehr werden würden. Sie atmete immer noch mehr Wasser als Luft ein und obwohl sie jetzt an der Oberfläche war, hatte die Strömung sie ergriffen und trug sie mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs mit sich. Das Ufer raste an ihr vorbei. Wurzeln und tief hängende Äste peitschten in ihr Gesicht, und
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