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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Stelle, an der sich der Bach einen neuen Weg gesucht hatte. Als sie ihn sah, verstand sie auch, warum. Es gab an dieser Stelle einen Hohlweg, der ein kurzes Stück weit parallel zum alten Verlauf des Baches führte, dann aber im rechten Winkel abknickte und ein starkes Gefälle aufwies; vielleicht war es sogar der alte, ursprüngliche Bachlauf, der vor Tausenden oder auch Millionen Jahren ausgetrocknet war, als sich das Wasser einen anderen Weg gesucht hatte. Jetzt hatten die Fluten die Barriere wieder durchbrochen und schossen schäumend und mit Urgewalt den kaum zwei Meter breiten, aber ebenso tiefen Kanal entlang, in den sich der Weg verwandelt hatte, wobei sie alles mit sich rissen, was sich ihnen in den Weg stellte.
    Und genau in dem Winkel, in dem sich das Wasser brach, lag ein lebloser Körper.
    Rachels Herz machte einen entsetzten Sprung. Etwas wie ein eisiger, elektrisierender Schauer lief durch jeden einzelnen Nerv in ihrem Körper und für eine oder zwei Sekunden war sie nicht fähig, sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Bach knickte fast im rechten Winkel vor ihr weg, hatte aber genau in seiner Biegung einen flacheren Teil des Waldbodens ausgespült, in dem sich schon jetzt, nach wenigen Minuten, allerlei Strandgut angesammelt hatte – losgerissene Äste, zerfetzte Büsche, in der Dunkelheit schwarz glänzende Grasbüschel und der menschliche Körper, der sich leicht im Wasser hin und her bewegte, sodass es aussah, als ob seine ausgestreckten Arme ihr zuwinkten. Die Gestalt lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Wasser, und wie fast alles wirkte ihre Kleidung in dem schwachen Licht schwarz. Für einen Moment war Rachel hundertprozentig davon überzeugt, dass es Benedikt war.
    Endlich erwachte sie aus ihrer Erstarrung und rannte los. Der Boden unter ihren Füßen war glatt wie Schmierseife und sie strauchelte ein paar Mal, Äste und dürre, rasiermesserscharfe Zweige peitschten ihr Gesicht, aber sie spürte nichts von alledem, sondern stürzte zum Ufer, watete in das knietiefe Wasser, ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in die sie sich damit abermals begab, und drehte den Körper mit einem Ruck auf den Rücken.
    Es war nicht Benedikt.
    Es war der Mann, der auf ihn geschossen hatte. Er war tot. Seine Augen waren weit offen und auf seinem Gesicht war noch immer der gleiche fassungslose Ausdruck von Entsetzen zu erkennen, den sie oben am Wasserfall darauf gesehen hatte. Er musste ertrunken sein, denn sie konnte keinerlei äußerliche Verletzungen feststellen. Vielleicht hatte ihm auch ein gnädiges Schicksal das Schlimmste erspart, sodass ihn schon der Aufprall getötet hatte, und vielleicht galt der für alle Zeiten erstarrte Ausdruck von Entsetzen in seinen Augen auch nicht ihr, sondern der tödlichen Wasserwand, die das Letzte war, was er in seinem Leben gesehen hatte.
    Sie ließ den Toten los, watete wieder ans Ufer und sah sich verzweifelt um. Es war hier so dunkel wie überall, so dass sie nicht weiter sehen konnte als zwei oder vielleicht drei Meter, und nachdem sie den Schock über den Anblick des Toten einigermaßen überwunden hatte, begann sich dumpfe Verzweiflung in ihr breit zu machen. Der Anblick des Mannes hatte ihr endgültig klargemacht, wie unendlich groß das Wunder war, dass sie noch lebte, und wie unendlich klein die Wahrscheinlichkeit, dass Benedikt ebenfalls noch am Leben war.
    Auf einmal hörte sie ein gedämpftes Stöhnen, das irgendwo rechts von ihr erklang. Wie elektrisiert fuhr sie herum, starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und lauschte so angestrengt, wie sie konnte. Das Geräusch wiederholte sich, aber im ersten Moment gelang es ihr nicht, die genaue Richtung zu orten, aus der es kam. Blind tastete sie sich voran, stolperte über irgendetwas Weiches und Nachgiebiges, und ließ sich mit einem erschrockenen Keuchen in die Hocke sinken. Aber alles, was ihre tastenden Hände erfühlten, waren losgerissene Grasklumpen und halb aufgeweichtes Erdreich. Dann wiederholte sich das Stöhnen, lauter und deutlicher diesmal, und sie erkannte zumindest die ungefähre Richtung, aus der es kam.
    »Benedikt?«
    Keine Antwort. Auch das Stöhnen wiederholte sich nicht, aber sie drehte sich nach links und ging halb gebückt weiter und nach einigen weiteren Sekunden hörte sie keuchende Atemzüge. Erst danach erkannte sie einen schattenhaften Körper, der halb im Wasser, halb auf die gleiche Weise wie sie vorhin dalag, verfangen

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