Flut: Roman (German Edition)
in den ausgestreckten knorrigen Wurzelfingern der Bäume. Mit einem erleichterten Schrei stürzte sie vor, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und griff zitternd nach Benedikts Schultern.
Er bot einen schrecklichen Anblick. Er lebte und hatte keine – zumindest keinerlei sichtbare – Verletzungen, aber im schwachen Licht war sein Gesicht grau wie das eines Toten und der blasse Funke in seinen Augen war kaum noch als Leben zu bezeichnen. Als sie ihn hochzuziehen versuchte, keuchte er vor Schmerz.
»Benedikt? Was ist mit dir?«
»Es ist … alles in Ordnung«, murmelte Benedikt, was nicht nur vollkommen lächerlich war, sondern auch so klang, denn seine Stimme zitterte dabei vor Schwäche. »Was ist mit dir?«
Rachel konnte nicht anders – sie lachte leise und auf eine Art auf, dass es fast wie ein Schrei klang. Benedikts Sorge um sie war rührend, in diesem Moment aber vollkommen unangebracht; schließlich war sie es, die ihn gefunden hatte.
»Blöde Frage«, sagte sie. »Seit wann fragt man seinen Schutzengel, wie es ihm geht?«
Sie versuchte ein zweites Mal und vorsichtiger ihn aufzurichten und diesmal gelang es ihr, auch wenn Benedikt die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht erneut aufzustöhnen. Er lag so genau in der gleichen Haltung wie sie vorhin (und wie die Marienstatue) da, dass es schon fast unheimlich war. Seine Beine und der Unterleib lagen im eisigen Wasser und mussten mindestens so gefühllos und taub sein wie ihre zuvor, vermutlich aber viel mehr, denn er hatte deutlich länger so dagelegen, und auch sein Gesicht und seine Hände waren von zahllosen Schrammen und blutenden Kratzern übersät. Die rettende Hand, die aus dem Wald herausgegriffen und ihn festgehalten hatte, war alles andere als vorsichtig gewesen. Da Rachel wusste, wie sie selbst sich vorhin gefühlt hatte, ging sie mit großer Vorsicht ans Werk. Sie wechselte ihre Position, sodass sie von hinten unter seine Achseln greifen konnte, suchte mit Füßen und Knien nach festem Halt und zog ihn behutsam aus dem Wasser. Benedikt versuchte ihr dabei zu helfen, aber er schien kaum noch genügend Kraft zu haben, um sich zu bewegen. Nur mit äußerster Mühe gelang es Rachel, ihn ganz aus dem Wasser zu zerren und in einer halbwegs bequemen Haltung wieder zu Boden gleiten zu lassen.
Während sie erschöpft die Schultern nach vorne sinken ließ und die Augen schloss, atmete Benedikt erleichtert auf.
»Danke«, murmelte er. »Ich hätte es nicht alleine geschafft.«
»Das solltest du aber«, erwiderte Rachel. »Ich dachte, du wärst hier, um mich zu beschützen. Du verstößt gegen die Spielregeln.«
»Gerade hast du behauptet, du seist mein Schutzengel.«
»Das war gelogen«, sagte Rachel. »Nur um das klarzustellen: Du schuldest mir ein Leben.«
Benedikt machte ein Geräusch, das wohl ein Lachen sein sollte, aber eher wie ein qualvolles Husten klang, und auch Rachel konnte nicht anders, als die Lippen zu einem freudlosen Grinsen zu verziehen. Es war wirklich nicht der richtige Moment, um herumzualbern, aber alles andere hätte der Situation ein Gewicht verliehen, das sie nicht mehr ertragen hätte.
»Mehr als eins«, murmelte Benedikt. »Danke. Wenn du den Kerl nicht abgelenkt hättest, hätte er mich erwischt.«
Sie sah aus den Augenwinkeln, dass er sich aufzurichten versuchte und es ebenso wenig schaffte wie sie vorhin. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, aber dann biss er die Zähne zusammen und zog langsam die Knie an den Körper; vermutlich, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen und das Leben in seine unteren Extremitäten zurückzuzwingen. Rachel, die vorhin dasselbe durchgemacht hatte, konnte nicht anders, als seine Willenskraft und Stärke zu bewundern, fragte sich aber zugleich, warum er sich das antat. Es war tapfer, aber dumm. Er musste Höllenqualen leiden in diesem Moment und er hätte es sich wesentlich leichter machen können, hätte er einfach nur einige Minuten abgewartet. Sie waren nicht mehr in Gefahr. Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatten sie auch diesen Gefahren wieder getrotzt – oder sie zumindest irgendwie überlebt – und einige wenige Minuten machten nun keinen Unterschied mehr.
»Lass das«, sagte sie.
»Was?«
»Den Helden zu spielen.« Rachel richtete sich weiter auf, fühlte rauen Widerstand in ihrem Rücken und ließ sich mit einem leisen, aber sehr erleichtert klingenden Seufzen gegen den Baumstamm sinken. Er war so kalt und hart wie alles hier, aber allein das Wissen, dass er
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