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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nehmen sollte zu gehen, diese Frage stellte sie sich vorsichtshalber erst gar nicht. Zitternd streckte sie die Hände aus und klammerte sich an einen Ast, um nicht gleich wieder zu stürzen, blieb nach dem ersten Schritt abermals stehen und wartete fast eine halbe Minute, bevor sie den Mut zum zweiten Schritt aufbrachte. Auch danach legte sie erneut eine – kürzere – Pause ein und diesmal konnte sie ein schmerzerfülltes Keuchen nicht mehr ganz unterdrücken, aber sie konnte gehen. Auf diese Weise arbeitete sie sich wieder bis unmittelbar ans Wasser vor.
    Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt. Das Firmament war nun fast so schwarz wie der Wald, der sie umgab, und hätte sich nicht dann und wann ein verirrter Lichtstrahl auf der Wasseroberfläche vor ihr gebrochen, wäre sie vollkommen orientierungslos gewesen. Sie sah nach links und erschrak, als sie den Wasserfall erblickte, der vor Minutenfrist noch so harmlos gewesen war, dass Benedikt und sie mitten darin nach oben hatten klettern können. Jetzt hatte er sich in ein Monster verwandelt, einen schäumenden, brüllenden Katarakt, über den das Wasser mit solcher Urgewalt schoss, dass der Boden selbst hier, mindestens dreißig oder vierzig Meter entfernt, noch unter seiner Wucht erzitterte. Plötzlich begriff sie, welches Glück sie gehabt hatte, von der Gewalt der Flutwelle getroffen und so weit hinausgeschleudert worden zu sein. Wäre sie in diesen brodelnden Höllenschlund geraten, sie hätte keine Chance gehabt, lebend herauszukommen.
    Was sie wieder zu der Frage brachte, wo Benedikt und die anderen waren. Es war vielleicht der ungünstigste aller denkbaren Augenblicke, aber plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, was der Mann mit dem Gewehr zu ihr gesagt hatte: Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.
    Und wenn es die Wahrheit gewesen war? Sie verscheuchte den Gedanken. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie hätte zu einem Ergebnis kommen können, das zu entsetzlich war.
    Stattdessen wandte sie ihre Aufmerksamkeit in die entgegengesetzte Richtung, nach rechts. Auch dort erstreckte sich der Wald wie eine schwarze, vollkommen undurchdringliche Mauer bis unmittelbar ans Wasser heran, aber der Bach reflektierte das wenige Licht eben genug, dass man wenigstens seinem Verlauf folgen konnte. Der hatte sich abermals geändert. In einer Entfernung von vielleicht noch zwanzig oder dreißig Schritten knickte er jäh nach links ab und entschwand dann aus ihrem Sichtfeld, und alles, was sie auf diesem kurzen Stück erkennen konnte, waren Dunkelheit und verwirrende Schatten und Millionen und Abermillionen aufblitzender und ebenso schnell wieder vergehender Reflexe, die einen Eindruck reiner zerstörerischer Bewegung in ihr hinterließen. Benedikt war nicht zu sehen. Nirgends war auch nur die winzigste Spur von Leben zu entdecken. Die Sintflut war endgültig hereingebrochen und vielleicht war es wirklich so: Sie war die Letzte ihrer Art. Gottes Zorn hatte jegliches Leben von der Oberfläche des Planeten getilgt und vielleicht war sie bisher nur verschont worden, um die absolute Entsetzlichkeit dieses Gedankens zu begreifen.
    Eher die absolute Blödsinnigkeit, dachte Rachel ärgerlich. Sie war dabei, die Arbeit ihrer Verfolger zu tun: sich selbst auch noch den letzten Rest Mut zu nehmen. Benedikt musste hier irgendwo sein. Und er lebte. Sie wusste es. Sie hätte es gespürt, wenn er nicht mehr am Leben gewesen wäre.
    Sie wich einen halben Schritt weiter in den Wald zurück, nur um nicht versehentlich einen Fehltritt zu tun und wieder ins Wasser zu fallen, wandte sich nach rechts und ging vorsichtig los. Jeder Schritt war ihr noch immer eine Qual, und da sie praktisch nichts sehen konnte, kam sie nicht besonders gut von der Stelle. Immer wieder prallte sie gegen Hindernisse, fügte sich neue Kratzer und Schrammen zu, wenn ihr Gesicht und ihre Hände mit Ästen in Berührung kamen, die sie in der jetzt fast völligen Dunkelheit nicht sehen konnte, und sie hörte bald auf zu zählen, wie oft sie über unsichtbare Hindernisse stolperte. Ab und zu rief sie Benedikts Namen, bekam aber natürlich keine Antwort. Selbst wenn er in der Nähe gewesen wäre, hätte er sie vermutlich nicht gehört – und hätte er geantwortet, hätten das Brüllen des Wasserfalls und das seidige Zischen des Baches seine Antwort wahrscheinlich verschluckt.
    Mühsam arbeitete sie sich bis zu der Stelle vor, an der der Bach nach links abbog, um sich einen neuen Verlauf zu suchen. Vor ihr war

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