Flut: Roman (German Edition)
Es ist wichtig!«
Die Situation war vollkommen absurd, aber Rachel ertappte sich tatsächlich dabei, die Hand nach der Sicherungskette auszustrecken. Als ihr die Bewegung bewusst wurde, zog sie den Arm erschrocken zurück und machte einen Schritt nach hinten. »Gehen Sie jetzt oder ich rufe die Polizei«, sagte sie. Gleichzeitig kam sie sich bei diesen Worten fast lächerlich vor. Wenn er tatsächlich hinter alldem steckte, dann wusste er verdammt genau, dass sie nichts und niemanden rufen konnte, schon gar nicht die Polizei. Andererseits – wenn der junge Mann tatsächlich irgendein ausgeflippter Massenmörder war, der sonntagmorgens jungen Frauen an Bushaltestellen auflauerte, warum sollte er sie dann erst nach Hause bringen und in aller Seelenruhe zusehen, wie sie die Tür hinter sich abschloss, bevor er über sie herfiel? Das alles ergab überhaupt keinen Sinn!
Das Klopfen wiederholte sich und war jetzt eher ein Hämmern. Rachel trat mit pochendem Herzen und zitternden Knien wieder an die Tür heran und konnte durch das bunte Glas hindurch zumindest seinen Umriss erkennen, wenn auch nicht sein Gesicht. Aber in seiner Stimme war ein Ton, der fast so panisch klang, wie sie selbst sich fühlte, als er fortfuhr: »Also gut, wenn Sie schon nicht auf mich hören wollen, dann verlassen Sie das Haus! Laufen Sie weg! Verschwinden Sie, so schnell Sie können! Ich meine es ernst!«
»Ich auch!«, antwortete Rachel. »Ich rufe jetzt die Polizei und lasse Sie verhaften!«
»Tun Sie das nicht!«, antwortete der junge Mann. »Hören Sie! Ich kann Sie verstehen. Mein Name ist Benedikt. Benedikt Darkov. Ich schiebe Ihnen eine Karte mit meiner Handynummer unter der Tür durch. Nur für den Fall, dass Sie mich erreichen wollen.« Der Umriss hinter dem Bleiglasfenster verschwand und einen Augenblick später wurde eine Visitenkarte unter der Haustür hindurchgeschoben. Rachel starrte sie verständnislos an, streckte den Arm aus und richtete sich dann wieder auf, um einen Blick durch das Fenster zu werfen. Sie konnte einen Schatten sehen, der sich von der Tür entfernte. Sie wartete, bis er außer Sichtweite war, dann bückte sie sich nach der Karte, hob sie auf und stellte fest, dass es sich wahrscheinlich um eine selbst gemachte Karte handelte. Die Tinte war an einigen Stellen verwischt und die Schrift kaum leserlich. Sie steckte den Zettel ein, ohne der Nummer mehr als einen flüchtigen Blick gegönnt zu haben, ging wieder ins Wohnzimmer zurück und versuchte wider besseres Wissen noch einmal den Hörer abzuheben und die Polizei anzurufen. Das Telefon war immer noch tot.
Ihr Handy befand sich im Wagen und da es an die Batterie des Autos angeschlossen war, war es ebenso nutzlos wie alles andere, und ihre Nachbarn schliefen vermutlich noch. Es würde wenig Sinn haben, gegen die Wand zu klopfen und um Hilfe zu rufen. Außerdem würde sie sich damit wohl endgültig blamieren. Rachel versuchte sich zur Ruhe zu zwingen und die Situation mit der gebotenen Gelassenheit zu analysieren. Vermutlich befand sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr. Wer immer hier gewesen war (wenn überhaupt jemand hier gewesen war; sie war mittlerweile nicht mehr sicher, sich das alles nicht nur eingebildet zu haben), hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, und würde sich jetzt bestimmt nicht so auffällig benehmen wie dieser junge Bursche. Wahrscheinlich war er nur ein harmloser Spinner, jemand, der fest davon überzeugt war, dass Gottes Zorn aus irgendeinem Grund auf sie gerichtet sein würde, wenn sie ihn nicht anhörte. Oder der in ihr eine Art weiblicher Messias sah, der seiner eigentlichen Aufgabe zugeführt werden musste. Auch von dieser Sorte hatte sie in der vergangenen Woche mehr kennen gelernt, als ihr recht war. Dennoch: Sie konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen, sondern musste irgendetwas unternehmen.
Sie ging zur Haustür zurück, überzeugte sich noch einmal davon, dass sie fest verschlossen war, und trat dann an den großen Garderobenspiegel heran. Die Diele war dunkel. Das Licht milderte den Anblick, der sich ihr bot, auf barmherzige Art, aber man konnte auch bei viel gutem Willen nicht behaupten, dass sie gut aussah. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, ihr Haar hing nass und in klebrigen Strähnen bis auf ihre Schultern herab und ihre Haut hatte einen ungesunden, teigigen Glanz. Und da war etwas in ihren Augen, das sie selbst erschreckte. Ein Flackern. Die Panik, die sie immer noch
Weitere Kostenlose Bücher