Flut: Roman (German Edition)
sagte De Ville, »da sind wir nun wirklich nicht auf fünftausend Jahre alte Schriftrollen angewiesen.« Er machte eine Kopfbewegung zu den beiden dunkel gekleideten Männern auf der anderen Seite des Tisches, die bisher kein Wort gesagt hatten, sondern der Unterhaltung nur mit besorgter Miene gefolgt waren. »Doktor Giradeli hier ist Leiter der vatikanischen Sternwarte in Castel Gandolfo. Er hat die neuesten Daten des Hubble-Teleskops dabei, das den Weg des Meteoriten seit seiner ersten Sichtung verfolgt – zusammen mit einem Dutzend weiterer militärischer und ziviler Satelliten. Der Meteorit wird in …« – er sah auf die Armbanduhr – »... präzise drei Stunden und fünfundfünfzig Minuten hundertfünfzig Kilometer südwestlich von Sizilien ins Meer einschlagen und keine Macht der Welt kann das noch verhindern.«
»Warum schießen sie ihn nicht einfach ab?«, fragte Uschi.
»Womit denn?« De Ville schüttelte energisch den Kopf. »Das hier ist keine Sciencefiction-Geschichte, in der der Regisseur die Spielregeln bestimmt, sondern es ist die Wirklichkeit.«
Rachel hatte Mühe, seinen Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Nach dem, was sie gerade von Johannes Petrus gehört hatte, erschienen sie ihr auf eine fast schon groteske Weise banal und bedeutungslos; sie verstand weder ihren Inhalt, noch begriff sie den abrupten Themenwechsel, mit dem De Ville das Gespräch fast gewaltsam an sich gerissen hatte. Aber dann blickte sie in Johannes Petrus' Gesicht und verstand. De Ville war weder gefühllos noch dumm, sondern hatte schlichtweg die Notbremse gezogen. Die Würde und Autorität, die Johannes Petrus ausstrahlte, hatten vielleicht sie und alle anderen hier im Raum getäuscht, aber De Ville hatte die Warnzeichen erkannt. Johannes Petrus stand ganz kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch. Die unsichtbare Last, die auf seinen Schultern zu liegen schien, existierte wirklich und er trug sie schon viel zu lange. Er drohte darunter zusammenzubrechen. Und er würde es, früher oder später. De Ville hatte ihn absichtlich unterbrochen, um das Schlimmste zu verhindern.
»Wozu gibt es denn Raketen und Atomsprengköpfe?«, beharrte Uschi.
»Zufällig verfügt der Vatikan nicht über taktische Kernwaffen«, antwortete De Ville sarkastisch und schüttelte erneut und noch heftiger den Kopf, auf eine befehlende, fast herrische Art, um jeden weiteren Einwand von Uschi schon im Keim zu ersticken.
»Es ist vollkommen ausgeschlossen, den Meteor noch abzufangen«, mischte sich Giradeli ein. »Er bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als hunderttausend Kilometern in der Stunde und er wird mit jeder Minute, die er sich der Erde nähert, schneller. Selbst wenn die Amerikaner oder irgendeine andere Nation auf der Welt Raketen hätten, mit denen sie ihn treffen könnten, würde es Stunden dauern, sie entsprechend zu programmieren.«
»Und sogar dann wäre es sinnlos«, fügte De Ville hinzu.
»Wieso?«, fragte Uschi.
»Weil dieser Meteor im Moment einen Durchmesser von gut dreißig Kilometern hat«, sagte Giradeli. »Nicht einmal der größte Atomsprengkopf der Welt könnte ihm nennenswerten Schaden zufügen – oder ihn so weit ablenken, dass er die Erde verfehlt. Wir haben ihn einfach zu spät entdeckt.«
»Dreißig … Kilometer?«, hauchte Uschi.
»Er besteht zu hundert Prozent aus Eis«, sagte Giradeli. »Gefrorenes Wasser. Kein Fels. Bestünde er aus massivem Gestein oder gar Eisenerz, würde er die Erde vermutlich zertrümmern – auf jeden Fall aber jegliches Leben auf dem Planeten auslöschen.«
»Aber so wird er schmelzen, wenn er in die Atmosphäre eindringt«, sagte Uschi. Es war keine Frage, sondern ein verzweifeltes Flehen. Sie hatte Giradeli die Antwort vorformuliert, die sie hören wollte.
Aber er antwortete mit einem Kopfschütteln. »Leider nicht vollkommen«, sagte er. »Vermutlich werden neunzig Prozent seiner Masse verdampfen, wenn er auf die Atmosphäre prallt, aber ein Teil wird auf jeden Fall ins Meer stürzen. Ein ziemlich großer Teil, fürchte ich.«
»Aber es ist doch nur Eis!«, protestierte Uschi. »Und er wird ins Meer fallen, das haben Sie selbst gesagt!«
»Ein Eisbrocken von der Größe des Matterhorns, der mit immer noch zehn- oder zwanzigtausend Stundenkilometern ins Meer stürzt«, sagte De Ville. »Die Folgen werden auf jeden Fall verheerend sein.« Er wandte sich zu Giradeli um. »Doktor.«
»Es ist unmöglich vorherzusagen, wie groß das Stück sein wird, das ins Meer
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