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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Euch nicht zu nahe treten, Heiliger Vater, aber Sie haben sich da, glaube ich, um ein paar Jahre verrechnet.«
    »Der gregorianische Kalender ist nicht ganz genau«, sagte De Ville ruhig. »Eine wirklich präzise Zeitrechnung gibt es erst seit ungefähr vierhundert Jahren – auch wenn das niemand gern zugibt. Es spielt im Grunde auch keine Rolle, aber Tatsache ist, dass diese beiden Zeitrechnungen etwa dreißig Jahre voneinander abweichen.«
    »Aber es steht auch geschrieben«, fuhr Johannes Petrus mit leiser, fast brechender Stimme fort, »dass in der letzten Sekunde des letzten Tages des alten Jahrtausends der Antichrist geboren wird, Luzifers Bote auf Erden, der alles in seiner Macht Stehende tun wird, um die Menschen zu verderben und die Welt in den Untergang zu führen.«
    Rachel liefen bei diesen Worten eisige Schauer über den Rücken. Sie klangen vollkommen lächerlich oder sollten es wenigstens tun – das waren Geschichten, mit denen man nicht einmal mehr kleine Kinder erschrecken konnte und die jeden halbwegs vernünftigen Menschen zum Lachen bringen sollten. Aber sie taten es nicht. In diesem Moment, nach allem, was sie erlebt hatte, und im Angesicht des gebrochenen Mannes, dem sie gegenüberstand, und des unsäglichen Schmerzes und der Schuld, die sie in seinen Augen las, enthielten diese Worte eine Wahrhaftigkeit, der sie sich nicht entziehen konnte. »Was ist geschehen?«, fragte sie.
    »Wir dachten, Sie kennen den Zeitpunkt, an dem der Antichrist geboren wird«, antwortete Johannes Petrus leise. Er sah sie an, aber in seinen Augen war eine Leere, die sie erneut erschauern ließ, und zugleich ein Ausdruck, als wäre hinter der Unendlichkeit, in die sie blickten, etwas, das ihn mit abgrundtiefem Entsetzen erfüllte. »Ich war jung damals, das müssen Sie verstehen. Nicht viel älter als Sie heute. Wenn man jung ist, sieht man vieles anders. Wir alle waren jung. Wir waren naiv und so dumm. Wir dachten, wir könnten Gottes Willen trotzen. Ich hielt mich für stark genug, das Opfer zu bringen.«
    »Welches Opfer?«, fragte Rachel.
    »Das größte überhaupt. Es schien so einfach. Ort und Zeit waren uns bekannt und es war nur eine Frage des Willens und der nötigen Energie, auch die Frau ausfindig zu machen, die der alte Feind zur Mutter seines Kindes erkoren hatte.«
    »Also haben Sie beschlossen, das Kind zu töten«, flüsterte Rachel.
    Johannes Petrus nickte. Er schloss die Augen und stützte sich schwer auf die Tischplatte. »Ja«, flüsterte er. »Ich war bereit, meine Seele zu opfern und ewige Verdammnis in Kauf zu nehmen, um Satan zu trotzen und die Menschen zu retten.« Er lachte. Zumindest glaubte Rachel im ersten Moment, dass es ein Lachen war, dann aber begriff sie, dass sie ein Schluchzen hörte. »Was für ein Narr ich doch war! Ich wurde zu seinem Werkzeug statt zu seinem Vernichter. Ich habe getötet. Ich habe Blut vergossen mit meinen eigenen Händen. Das Blut unschuldiger Menschen. Ich habe die größte Sünde begangen, die ein Mensch im Angesicht Gottes begehen kann, und immer noch geglaubt, das Richtige zu tun.«
    »Aber das war es doch«, sagte Rachel. »Wenn … wenn das alles wahr ist oder wenn Sie auch nur wirklich geglaubt haben, dass es wahr ist, dann … dann hatten Sie gar keine andere Wahl. Ein Leben gegen das von Millionen!«
    »Und genau das ist die Rechnung des Teufels«, sagte Johannes Petrus. Sie spürte, dass er geschrien hätte, hätte er noch die Kraft dazu gehabt. Schon als er hereingekommen war, hatte er älter ausgesehen, als sie ihn in Erinnerung hatte, und jetzt schien er vor ihren Augen binnen Sekunden weiter zu altern, zu einem schwachen und müden Mann zu werden. »Ich habe getötet. Ich habe gegen das erste und heiligste aller Gebote verstoßen und vielleicht habe ich auf diese Weise Satan erst den Weg geebnet.«
    »Aber nicht das Kind«, vermutete Uschi. Als sie keine Antwort bekam, fügte Rachel hinzu:
    »Was ist geschehen?«
    »Es waren zwei«, sagte Johannes Petrus. »Zwei Kinder. Die Frau gebar Zwillinge. Sie wurde bei der Geburt getötet. Ebenso wie die Hebamme und der Arzt. Niemand konnte sagen, welches Kind das Erstgeborene und welches das zweite war.«
    »Und Sie hatten nur die Wahl, beide zu töten oder beide am Leben zu lassen.«
    »Ich war verzweifelt. Ich konnte es nicht tun. Ich … ich hätte es nicht einmal dann tun können, wenn ich genau gewusst hätte, welches Kind welches ist.«
    »Also beschlossen Sie, beide mitzunehmen und zu warten,

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