Flut: Roman (German Edition)
Bewegung.
»Wohin fahren wir?«, wandte sich Uschi an De Ville.
Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich, bevor er antwortete. »Nach Castel Gandolfo, der Sommerresidenz des Papstes.«
»Ich weiß«, sagte Uschi. »Aber was ist daran sicherer als in Rom?«
»Es gibt Schutzräume dort«, sagte De Ville unwillig. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Schutzräume?« Rachel sah nicht in Uschis Richtung, aber der spöttische Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Aber warum frage ich eigentlich? Sie wussten ja schon immer, was passieren wird, und haben sich darauf vorbereitet, nicht wahr?«
Für eine halbe Sekunde verzerrte sich De Villes Gesicht vor blanker Wut, aber er beherrschte sich und antwortete: »Die Welt war nicht immer so sicher wie jetzt. Es ist noch nicht lange her, da war man der Meinung, für alle Eventualitäten gerüstet sein zu müssen.«
»Also hat der Heilige Vater einen eigenen Atombunker?«, stichelte Uschi.
»Ein Überbleibsel aus den Zeiten des Kalten Krieges«, gestand De Ville unumwunden. »Sie sollten froh sein, dass es ihn gibt. Auf diese Weise werden Sie den morgigen Tag wenigstens noch erleben.«
»Genau wie Sie, nehme ich an«, vermutete Uschi.
»Bitte hör auf«, bat Rachel.
»Ganz wie du meinst«, erwiderte Uschi beleidigt. »Darf ich wenigstens wissen, wie lange wir unterwegs sein werden?«
»Vielleicht eine halbe Stunde«, antwortete De Ville; unwillig und erst nach einem spürbaren Zögern. Nach einer weiteren Pause, noch leiser und in einem Tonfall, der die Worte eher zu einer Bitte machte, fügte er hinzu: »Wenn nichts dazwischenkommt.«
Rachel schien nicht die Einzige zu sein, der dieser letzte Satz nicht gefiel. Sie musste sich beherrschen, um sich nicht zu De Ville herumzudrehen und ihn nervös anzublicken, und obwohl sie Uschi nicht ansah, spürte sie doch, dass es ihr genauso erging. De Ville mochte eine Menge guter Eigenschaften haben – sie hatte noch nicht viele davon kennen gelernt, aber er wäre nicht in der Position, in der er war, hätte er sie nicht –, aber ein besonders sensibler Psychologe war er offensichtlich nicht.
Sie verscheuchte den Gedanken, lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz zurück und versuchte sich wenigstens körperlich zu entspannen, aber nicht einmal das gelang ihr. Nach den zurückliegenden Strapazen hätte sie erwartet, beim ersten Anzeichen von Schwäche oder auch nur mangelnder Konzentration sofort in einen totenähnlichen Tiefschlaf zu versinken, aber das genaue Gegenteil schien der Fall. Jeder Nerv in ihr summte wie ein unter Hochspannung stehendes Stromkabel und wenn sie die Augen schließen und ihrer Fantasie die Zügel schießen lassen würde, dann würde sie sich nur mit Bildern quälen, die wahrscheinlich schlimmer waren als jede Wirklichkeit.
Sie zwang sich, die Lider zu heben und sich langsam und aufmerksam im Bus umzusehen, nicht weil es hier irgendetwas gab, das sie wirklich interessierte, sondern nur, um an etwas anderes zu denken. Mit ihrer ersten Einschätzung des Gefährts schien sie der Wahrheit ziemlich nahe gekommen zu sein. Es handelte sich offenbar tatsächlich um einen Schulbus, den De Villes Männer kurzerhand requiriert hatten, und ebenso offenbar tatsächlich um einen original amerikanischen Schulbus, wie auch immer er seinen Weg hierher gefunden haben mochte. Die Beschriftungen über den Fenstern und auf den verkratzten Messingschildchen an den Rückseiten der Lehnen waren in Englisch und dasselbe galt für die Instrumente auf dem Armaturenbrett vor dem Fahrer. Das rote Kunstleder war längst hart und brüchig geworden und unzählige Kinder hatten ihre Spuren in Form verblichener Kritzeleien oder in das Leder geritzter Namen, kleiner Herzchen und anderer Zeichnungen hinterlassen, und wenn ihre Fantasie nicht wie eine geduldig lauernde Spinne nur darauf gewartet hätte, dass sie die Lider senkte und sie ihre Giftzähne wieder in ihre Gedanken schlagen konnte, dann hätte Rachel wahrscheinlich nur die Augen schließen müssen, um fröhlichen Kinderlärm, Lachen und helle Stimmen zu hören, die Musik aus einem Dutzend quäkender Walkman-Kopfhörer und vielleicht auch die mahnende Stimme des Lehrers, der vergeblich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Stattdessen jedoch sah sie einen Bus voll größtenteils bewaffneter Männer, die sich alle Mühe gaben, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen, denen man aber trotzdem überdeutlich ansah, dass sie wussten, was sie
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