Flut: Roman (German Edition)
Anstalten, sein Gefährt in Gang zu setzen.
Unschlüssig deutete sie zum hinteren Ende des Busses. »Kann ich mit ihr reden?«
»Warum nicht?« De Ville nickte.
Rachel sah ihn beinahe überrascht an. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass De Ville ihr die Bitte abschlagen würde, und sei es nur aus dem einzigen Grund, seine angeschlagene Autorität vor sich selbst wieder zu festigen. Bevor sie ihn jedoch mit ihrem eigenen Zögern auf die Idee bringen konnte, ganz genau das zu tun, setzte sie sich mit schnellen Schritten in Bewegung.
Je näher sie Tanja kam, desto intensiver wurde das ungute Gefühl. Ihr Herz klopfte. Streng genommen hatte sie all das, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war, nur deshalb auf sich genommen, um eine Schuld bei Tanja zu begleichen, die es vielleicht gar nicht gab. Sie hätte erleichtert sein müssen, sie zu sehen, aber das Gegenteil war der Fall. Plötzlich hatte sie fast Angst davor, ihr gegenüberzutreten. Und noch etwas: Das Gefühl, beobachtet zu werden, war wieder da. Die Drachenaugen waren nie fort gewesen. Sie hatten für einen Moment in eine andere Richtung geblickt, aber nun konzentrierten sie sich wieder auf sie.
Sie verscheuchte den Gedanken. »Hallo Tanja«, sagte sie.
Tanja reagierte im ersten Moment überhaupt nicht, was ihr einen tiefen, schmerzhaften Stich versetzte, aber Frank hob mit einem Ruck den Kopf und starrte sie an. In seinem Gesicht war keine Spur von Benommenheit mehr und auch seine Augen waren hellwach und plötzlich wieder von der alten Feindseligkeit und Wut erfüllt, die sie fast vom ersten Augenblick an darin gesehen hatte. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, hob Tanja den Kopf und sah zu ihr auf.
Rachel erschrak, als sie in ihr Gesicht blickte. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Sie wagte sich nicht einmal vorzustellen, was Tanja in den letzten Tagen durchlitten haben mochte, aber es musste schlimmer gewesen sein, als sie selbst bis zu diesem Moment geglaubt hatte. Tanja war sehr blass. Ihr Gesicht, das in den letzten Wochen der Schwangerschaft aufgedunsen und mitgenommen gewirkt hatte, ohne dadurch irgendetwas von seiner natürlichen Schönheit zu verlieren, wirkte jetzt einfach nur noch krank, von dunklen Linien und der Erinnerung an still erduldeten Schmerz gezeichnet. Für einen Moment löste dieser Anblick einfach nur Wut in Rachel aus, Wut auf Darkov, der ihr das angetan hatte, aber auch auf Torben und Benedikt und letzten Endes sogar auf sich selbst. Warum waren es immer die Unschuldigen, Unbeteiligten, die am meisten unter einer Sache leiden mussten?
»Rachel«, sagte Tanja. Ihre Stimme klang ebenso müde, wie sie aussah, und der dünne Schmerz in Rachels Brust wurde schlimmer. »Es ist schön, dass du da bist. Frank hat mir erzählt, was passiert ist. Ohne dich hätten sie uns wahrscheinlich nie gefunden.«
Ohne mich hätten sie euch nie entführt, dachte Rachel bitter. Sie zwang sich zu einem Lächeln und setzte dazu an, sich auf den freien Platz neben Tanja zu setzen, erstarrte dann aber mitten in der Bewegung, als sie Franks Blick begegnete. Sie konnte den Zorn, der ihn erfüllte, fast körperlich spüren.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Nicht gut«, antwortete Tanja. Sie versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein schmerzhaftes Verziehen der Lippen zustande.
»Aber es ist doch noch nicht – ?«
Tanja unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Noch vier Tage, oder fünf. Jedenfalls sagt der Arzt das. Es hat auch nichts mit dem Kind zu tun. Ich fühle mich einfach … nicht besonders gut.«
Das konnte Rachel gut verstehen. Niemand in ihrer Lage hätte sich besser als nicht besonders gut gefühlt. Und sie war trotz allem erleichtert, dass Darkovs Männer ihr nichts angetan hatten. Zumindest nicht körperlich. »Was ist mit den anderen?«
Tanja schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Sie haben sie befreit, aber mich haben sie hierher gebracht. Ich weiß nicht, wo die anderen sind.«
»In Sicherheit«, sagte Rachel. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, ob das stimmte, aber es musste einfach so sein. Außerdem war Tanja sichtlich nicht in der Verfassung, weitere schlechte Nachrichten zu hören.
»Wohin bringen sie uns?«, fragte Tanja. »Ich meine, was bedeutet das alles? Sie haben mir nicht einmal gesagt, warum sie uns entführt haben.«
»Ich weiß es nicht«, log Rachel. Wie konnte sie Tanja sagen, was wirklich geschehen war?
»Das reicht jetzt«, mischte sich Frank ein. »Siehst du
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