Flut: Roman (German Edition)
etwas wie Weltuntergangsstimmung herrschte. In weiten Teilen Roms – vermutlich der ganzen Welt – war die blanke Panik ausgebrochen und sie hätte erwartet, dass viel mehr Menschen versuchten, die Stadt zu verlassen; auch wenn es dort keinerlei Rettung oder auch nur Hoffnung auf Sicherheit gab.
Sie beugte sich auf dem Sitz noch weiter zur Seite, bis ihr Gesicht gegen das kalte Glas der Scheibe stieß, um nach oben zu sehen. Der Stern der Vernichtung war näher gekommen. Rachel erschrak, als sie sah, wie groß er geworden war: ein weiß glühendes, böses Auge, das von einem Kranz fahler Helligkeit umgeben war, von dem dünne, rauchige Linien aus falschem Licht wie ein im Entstehen begriffenes Spinnennetz ausgingen, die bereits ein Drittel des Firmaments erobert hatten. Der Himmelskörper sah nicht aus wie der klassische Meteor, sondern wie etwas vollkommen Falsches. In irgendeiner Zeitschrift hatte sie einmal gelesen, dass eine Menge Wissenschaftler die These vertraten, das Leben sei vor Urzeiten mit Meteoren auf die Erde gekommen, und diese Theorie war ihr immer höchst einleuchtend erschienen, aber nun, als sie diesen bösen, näher kommenden Götterboten der Vernichtung sah, wusste sie, dass sie nur falsch sein konnte, denn dieses Ding konnte unmöglich aus einer Welt stammen, in der es etwas Lebendiges, Warmes und Atmendes gab. Mit einem Mal war ihr klar, was es war, das sie die ganze Zeit über gespürt hatte. Die Drachenaugen. Es waren nicht die kalten Kameraaugen der Satelliten gewesen, wie sie angenommen hatte, nichts von Menschenhand Geschaffenes, dessen Lauern sie spürte, sondern die Annäherung dieses vernichtenden, durch und durch bösen Sterns. Nervös und von einer tiefen, bohrenden Beunruhigung erfüllt, ließ sie sich wieder in ihren Sitz zurücksinken und schloss die Augen, aber natürlich gelang es ihr nicht, den Anblick des lodernden Flammenauges zu verjagen. Sie sah es weiterhin.
»Was ist denn da vorne los?«, fragte Uschi plötzlich.
Rachel hob die Augen und richtete sich ein wenig im Sitz auf, um über die Rückenlehne des Vordersitzes hinweg durch die Frontscheibe sehen zu können. Die Straße vor ihnen war nicht mehr leer. Der vorausfahrende Wagen war langsamer geworden und rollte jetzt nur noch im Schritttempo dahin und auch ihr Bus verlor rasch an Geschwindigkeit. Der Grund bestand aus zwei ineinander verkeilten Automobilen, die nahezu die gesamte Fahrbahn blockierten. Der Unfall konnte erst vor wenigen Augenblicken geschehen sein, denn die Scheinwerfer beider Wagen brannten noch und Rachel glaubte in dem blassgrauen Licht zumindest eine, wenn nicht mehrere reglose Gestalten auf dem Straßenpflaster liegen zu sehen.
Der Mercedes vor ihnen wurde noch langsamer und hätte sicherlich im nächsten Moment angehalten, aber in diesem Augenblick hob De Ville sein Walkie-Talkie und sprach hinein, und in der nächsten Sekunde beschleunigte der Wagen wieder und wich bis fast an den linken Straßenrand aus, um in einem großen Bogen um das Hindernis herumzufahren. Auch der Bus beschleunigte, wenn auch nicht ganz so schnell wie der vorausfahrende Pkw, und Uschi sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was zum Teufel soll das?«, fragte sie. »Wir müssen anhalten!«
»Nein«, sagte De Ville. »Das können wir nicht.«
»Sind Sie wahnsinnig?«, fragte Uschi, nur noch ein halbes Dezibel davon entfernt, wirklich zu schreien. »Die Leute da brauchen Hilfe!«
»Wir können nichts für sie tun«, sagte De Ville.
»Aber ich denke, wir haben einen Arzt dabei?«
»Er fährt im nachfolgenden Wagen«, bestätigte De Ville. Er schwieg eine Sekunde, starrte Uschi aus eng zusammengekniffenen Augen und jetzt eindeutig wütend an und hob dann mit einer ruckartigen Bewegung das Sprechgerät wieder an die Lippen. Rachel verstand nicht, was er sagte, denn er bediente sich seiner Muttersprache, aber als er den Apparat wieder sinken ließ, lag ein Ausdruck von grimmiger Befriedigung auf Uschis Zügen.
»Der Arzt wird sich um die Verletzten kümmern«, sagte De Ville. »Ich hoffe, Sie sind zufrieden.«
»Nein«, sagte Uschi, »aber es ist immerhin ein Anfang.«
Der Bus schaukelte, als er mit den Rädern auf der linken Seite auf den Gehweg geriet und einen Moment später wieder auf die Straße hinabhüpfte, nachdem sie das Hindernis passiert hatten. Sie wurden wieder schneller und Rachel sah durch das rückwärtige Fenster hinaus und erkannte, dass der zweite Wagen ihres Geleitschutzes tatsächlich
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