Flut: Roman (German Edition)
gesprächig.«
»Aber Sie haben doch bestimmt Mittel und Wege, um ihn zum Sprechen zu kriegen«, vermutete Rachel.
De Ville blieb ruhig. »Die Zeiten der Inquisition sind vorbei«, antwortete er. Rachel hatte das Gefühl, dass es ihm aufrichtig Leid tat. »Sie haben natürlich völlig Recht. Wir verfügen über gewissen Methoden, jeden zum Reden zu bringen, über kurz oder lang. Aber das braucht Zeit und Zeit ist ganz genau das, was wir im Moment am wenigsten haben.«
»Wieso?«
De Ville blickte für eine kurze Zeitspanne an ihr vorbei ins Leere, bevor er antwortete, und in diesen zwei oder drei Sekunden schien eine sehr sonderbare Veränderung mit seinem Gesicht vonstatten zu gehen. Nichts daran wandelte sich wirklich, aber für einen Moment schienen alle Härte und Unerbittlichkeit aus seinen Zügen zu weichen, stattdessen erblickte Rachel in seinen Augen eine tiefe Verzweiflung und zugleich Hoffnungslosigkeit, so allumfassend, dass sie innerlich erschauderte. Nicht etwa aus Mitleid mit De Ville; obwohl sie diesen Mann erst seit wenigen Augenblicken kannte, gab es bereits nicht mehr viel Übel, das sie ihm nicht gegönnt hätte. Was sie innerlich erschauern ließ, war die Frage, was um alles in der Welt schlimm genug sein konnte, um einen Mann wie ihn mit einem solchen Entsetzen zu erfüllen wie dem, das sie gerade in seinen Augen erblickt hatte. Ganz bestimmt nicht die Entführung oder auch Ermordung von fünf Menschen, die er nicht einmal kannte.
Der Moment verging und die gewohnte Härte kehrte in De Villes Blick zurück. Er maß sie aus kalten, glitzernden Augen, bewegte sich leicht vor und griff dabei nach der Kaffeetasse auf dem Tisch, anscheinend ohne dass ihm die Geste selbst bewusst war. »Es muss noch einen weiteren Zusammenhang geben«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf Naubachs Liste, die noch immer zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Irgendetwas, das wir übersehen haben.«
»Natürlich haben wir am Anfang an ein Sexualverbrechen gedacht«, fügte Naubach hinzu. »Der Gedanke liegt nahe; die Entführten sind Frauen, sie sind jung und durchweg attraktiv. Das wäre schlimm genug, aber nach dem, was heute Morgen passiert ist …« Er schüttelte den Kopf. »Pathologische Serienmörder laufen nicht in Rudeln herum und schießen in aller Öffentlichkeit auf ihre Opfer.«
»Es muss einen anderen Grund geben«, pflichtete ihm De Ville bei.
»Und was macht Sie da so sicher?«, fragte Rachel.
»Ganz einfach die Tatsache, dass es unsere einzige Spur ist«, beharrte De Ville. »Wenn es nichts damit zu tun hat, dann haben wir gar nichts.« Er hob die Kaffeetasse an die Lippen und zögerte im letzten Moment, als er Rachels und Naubachs Blicke bemerkte. »Stimmt irgendwas nicht?«, fragte er. »Ich meine … gehört er Ihnen?«
»Kein Problem«, sagte Rachel hastig. »Bedienen Sie sich.« Sie wartete darauf, dass Naubach etwas sagte, aber auch der Kriminalbeamte schwieg und De Ville hob abermals die Schultern, nahm einen großen Schluck und setzte die Tasse wieder ab, ohne auch nur eine Miene verzogen zu haben.
Rachel starrte ihn an und Naubach drehte sich hastig zur Seite und schien irgendetwas auf dem Boden hinter sich zu suchen.
»Fehlt vielleicht irgendein Name auf dieser Liste?«, fragte De Ville. »Jemand, den wir übersehen haben, auf den aber alle Kriterien zutreffen, auf die wir schon gekommen sind?«
Rachel musste nicht lange überlegen. »Meine Freundin Uschi Mahler«, sagte sie. »Die, bei der ich die vergangene Woche verbracht habe.«
Bevor De Ville etwas erwidern konnte, verbesserte sie sich allerdings auch schon selbst: »Nein, das stimmt nicht. Sie passt nicht genau in das Muster. Ihre Familie war alles andere als erzkatholisch. Sie selbst ist bekennende Agnostikerin.«
»Vielleicht ist das der Schlüssel«, sinnierte Naubach. Er hatte immer noch Mühe, De Ville anzusehen und nicht die Kaffeetasse vor ihm. »Religion.«
»Eine Gruppierung religiöser Fanatiker?«, fragte De Ville. »Das wäre möglich.«
»Kaum«, mischte sich Rachel ein.
»Wieso?«
»Weil es keine Gemeinsamkeit ist«, behauptete Rachel. »Tanja zum Beispiel hat mit der katholischen Kirche nicht viel im Sinn. Ihre Eltern sind zwar strenggläubige Katholiken, aber sie selbst wäre längst aus der Kirche ausgetreten, wenn es ihre Eltern nicht gäbe. Sie will ihnen das nicht antun, verstehen Sie? Und sie befürchtet Repressalien«, fügte sie erklärend hinzu. »Es ist eine kleine Stadt.« Erst nachdem sie die
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