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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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mir hin und wieder eine Thrombosespritze ins Bein und dachte die ganze Zeit nur an das viele Geld und an die vielen Wochen ohne Freiburg. Wir vegetierten auf sehr unterschiedliche Weise nebeneinander her, beide randvoll von uns selbst, aber mit dem klaren, wenn auch etwas abstrakten Bewusstsein, dass da noch jemand im Raum war. Ich konnte Mittelmann vom Bett aus sehen, er mich vom Schreibtisch aus nicht. Plötzlich landete eine von Derrida gesteuerte Bananenschale auf meinem Gips. Wir lachten lange und hysterisch. Als ich am nächsten Tag abreiste, bemerkte ich zu meiner Überraschung freien Platz im Kopf.
    Den Rest des Sommers verbrachte ich lesend im Garten meiner Mutter in Bremen. Zuerst nahm ich mir die Bücher meiner Jugend, die ich in zwei Umzugskartons im Gartenschuppen wiedergefunden hatte, noch einmal vor, dann den Zauberberg , und dann alles, was ich zur Geschichte des Mittelalters in die Hände kriegen konnte. Als ich nach mehreren Wochen zum ersten Mal den Impuls zum Verlassen des Liegestuhls verspürte, radelte ich mit meinem Gipsbein ins Blockland, wo ich am Ufer der Wümme den Oblomow las. Halb konnte ich es wieder genießen, im Spätsommer auf einer Deichwiese liegend ein Buch zu lesen, halb fragte ich mich, ob mein Leben nicht ebenso sinnlos verrann wie das des traurigen Helden. Am nächsten Tag radelte ich in die andere Richtung, um außerhalb Bremens eine kleine romanische Kirche zu besichtigen. Das Dritte Reich rückte in diesen Wochen in den Hintergrund, aber es blieb wahrnehmbar, und mit dersich mir gerade erschließenden älteren Geschichte öffnete sich allmählich der Horizont der historischen Zeit. Als ich zum Beginn des Wintersemesters wieder in Freiburg ankam, stellte ich fest, dass sich offenbar während meiner dreimonatigen Abwesenheit auch die Stadt verändert hatte. Oder hatte sich in ihrer Mitte etwa immer schon die schönste Kirche des Abendlandes befunden? Auch im Studium gab es jetzt wenn kein Ziel, so doch zumindest eine Richtung. Ich schrieb mich für Geschichte im Hauptfach ein. Der Studiengang nannte sich Neuere und Neueste Geschichte, meinetwegen hätte er auch heißen können: Grundlagenvertiefung für Nazienkel.
    Ein Jahr später hielt dieses Studium das einzige Mal alles, was ich mir von ihm versprochen hatte. Ulrich Herbert, der damals bedeutendste Naziforscher der Welt, gab ein Hauptseminar zum Holocaust. Schon der Titel des Seminars war vielsagend. Das Wort »Holocaust« kam darin nämlich nicht vor, ebenso nüchtern wie programmatisch hieß es »Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs«.
    Jedes Mal, wenn Herbert als Letzter in dem restlos gefüllten Seminarraum Platz genommen hatte, erschreckte mich aufs Neue der Anblick seines Gesichts, wenn auch nur für einen Moment. Versteckt hinter den dicken Gläsern einer metallgefassten Brille lagen seine Augen da wie zwei Kiesel in einer Hochgebirgspfütze. Es schien unmöglich, ihren Blick zu erwidern, während sie uns lange und schweigend ansahen. Doch abweisend war dieses Gesicht nicht. Im Gegenteil, mit der Natürlichkeit einer großen Landschaft erzwang es Aufmerksamkeit. War das Schönheit? Es war Macht. Es war die Anziehungskraft eines Mannes, der wusste, dass er gefürchtet, aber nicht gehasst wird.
    Herbert war anders als die meisten Universitätslehrer seines Fachs. Er machte seinen Job. Er wollte uns etwas beibringen, und er war streng. Wenn eine Seminararbeit schlecht war, benotete er sie nicht mit 1,7. Er lehnte sie ab. Davon abgesehen war er ziemlich normal. Er hatte einen Körper, von dem man sich vorstellen konnte, dass er abends etwas aß und sonntags Fußball spielte. Sofern man davon erfuhr, besaß er den keineswegs stumpfen, aber etwas unsubtilen Geschmack eines promovierten Gymnasiallehrers. Eine Spur zu selbstbewusst trug er ähnlich geschnittene, wenn auch längst nicht so teure Anzüge wie kurz darauf Gerhard Schröder – an den er in seiner Schroffheit ohnehin etwas erinnerte –, hielt Schindlers Liste für einen Gipfel der Filmgeschichte und lobte die Romane Walter Kempowskis für ihre historische Wirklichkeitstreue. In seinem Büro hing keine Kunst, schon gar keine selbstgemachte, ganz in grauem Kunststoff gehalten war es ebenso unberührt von Selbstdarstellungswillen wie sein Werk vom Air des Theoretischen. Vergebens suchte man in seinen Texten nach Hinweisen auf einen sogenannten Ansatz. Er hatte einfach etwas wissen wollen, dann lange geforscht und dann

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