Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
einst familieneigenen Werft. Schräges Leben, hat erst viel entbehren müssen und dann Leid über andere gebracht.
Sie schrieb kein Wort mehr. Stattdessen rutschte sie tiefer in ihren Sessel, legte den Kopf in die Hand und hörte einfach nur zu. Anscheinend war sie mir für irgendetwas dankbar. Schließlich dankte ich ihr und ging. Ein weiterer Besuch schien mir überflüssig. Wirklich besser ging es mir zwar nicht, aber immerhin wusste ich jetzt, wozu ein Sturmbannführer in der Familie gut war.
So war ich zum Nazienkel geworden. Und so unerfreulich die Umstände auch waren, die das bewirkt hatten – es war tatsächlich ein Fortschritt. Ich wusste immer noch nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, auch die Unruhe hatte sich nicht gelegt. Aber die Panik war weg. Und es gab jetzt etwas, das unzweifelhaft zu mir gehörte und dessen ich mirganz sicher war. Mein Großvater war ein lupenreiner Nazi gewesen. Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere – diese Geschichte erzählte ich bald mit einer Virtuosität, die ihre Wirkung fast nie verfehlte. Ich konnte kaum fassen, wie scharf alle darauf waren. Das löste zwar meine Probleme nicht, aber zumindest war ich wieder partytauglich. Niemand hätte sich wohl angezogen gefühlt, wenn ich als Enkel Himmlers oder Mengeles dahergekommen wäre. Aber die wohlverpackte Mischung aus alter Familie und blondem SS-Offizier schien ohne Umweg über die Hirnrinde eine kräftige Leitbahn des vegetativen Nervensystems zu elektrisieren. Sie löste erregte Augenaufschläge und Backenrötungsprozesse aus, als würde Fest persönlich live aus Speer himself berichten. Kategorie rassiger Gentlemanverbrecher oder so. Weniger schüchterne Naturen hätten mit diesem Pfund zu wuchern gewusst. Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazimasche ins Bett kriegen können. Das wurde mir schlagartig klar, als ich zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder tanzen ging.
Sie der naiv-vergeistigte Engelstyp, so Ballett und Geigenunterricht halt. Ihr langes Haar, das sie mädchenhaft offen trug, roch nach Flieder, aber so taktvoll dosiert, dass diese kleine Geschmacksverirrung sich meinem leicht irritierbaren Begehren nicht in den Weg stellte. Man tanzte, man lachte, man trank ein zweites Bier. Man kam ins Plaudern.
»Und wie war das für dich? Das muss doch schlimm gewesen sein, als dir klar wurde, bei wem du da auf dem Schoß gesessen hast.«
Es war überhaupt nicht schlimm gewesen.
»Schwierige Frage«, sagte ich.
»Inwiefern?«
»Irgendwie nicht die passende Umgebung für das Thema«, schrie ich ihr ins Ohr, etwas lauter als die Musik es erforderte.
»Was schlägst du vor?«, fragte sie und lächelte.
Ich schlug das Gleiche vor wie immer. Und wie immer versagte ich. Aber immerhin mal wieder ein nächtlicher Spaziergang. Immerhin mal wieder fast mit reingekommen.
Wirkliche Besserung brachte erst der hochsommerliche Englische Garten.
Meine Ersparnisse waren aufgebraucht, mein Vater war immer noch pleite, aber erst kürzlich war mir ja wieder zu Bewusstsein gekommen, wie gut Aushilfsbriefträger in München bezahlt wurden. Also hatte ich zuerst beim Postamt in der Angerer Straße, wo man mich schon kannte, angerufen, dann bei meinem Freund Mittelmann, und am 1. Juli trug ich die ersten Briefe ins Hasenbergl. Fünf Tage später trug mich mein kurdischer Schulfreund Roni, von uns aus lokalpatriotischen Gründen »Toni« gerufen, in die Röntgenabteilung des Klinikums Rechts der Isar. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, die Wiese am Kleinhesseloher See war knüppelhart gewesen, und ich hatte mir den Ball so weit vorgelegt, dass ich die kleine Vertiefung im Boden nicht sah. Mittelfußfraktur. Was war das nur für ein Jahr? Ich konnte mein Pech kaum noch fassen – bis ich mich am Montag krankmeldete und plötzlich mein Glück nicht fassen konnte. Volle Lohnfortzahlung. 5600 Mark für fünf Wochen Urlaub! Nach der Erfahrung mit dem psychosozialen Notdienst war mir gar nicht mehr bewusst gewesen, dass der Wohlfahrtsstaat ja in Wirklichkeit zwei Seiten hatte.
Die ersten Tage meiner Arbeitsunfähigkeit verbrachte ich mit Mittelmann in seinem kleinen Dachzimmer im Lehel. Draußen kochte der Münchener Sommer. Mittelmann schrieban einer seiner berüchtigten Hausarbeiten über die Zukunft des Poststrukturalismus und stopfte dabei unfassbare Mengen Bananen in sich hinein. Alle paar Stunden hob er die Schalen vom Boden auf und trug sie in die Küche. Ich lag auf dem Bett, stieß
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