Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Deralte Schweinepriester, der elende Monophysit, der verfluchte Moralapostel! Hatte ihm aus dem Grab ein letztes Mal eins reingewürgt, so wie er es seit Kindertagen immer getan hatte. Ihm nichts zugetraut. Ihn gedemütigt. Ihm Steine in den Weg gelegt. Und jetzt – Denkmalschutz. Konnte das denn wahr sein? Die Weserstraße 84 stand unter Denkmalschutz!
Sie haben es doch selbst beantragt, sagte man ihm auf dem Grundbuchamt. Sie sind doch Friedrich Leo, oder nicht?
Um knapp eine Million Mark verminderte der Idealismus seines Vaters, eine Gesinnung, der es um den Erhalt von sogenannten Werten zu tun war, den Realwert des Hauses. M41 hatte mir davon bei unserer vorletzten Begegnung erzählt. Oder sollte ich lieber sagen: unserer letzten? Anders als beim Begräbnis seines Bruders war es nämlich eine echte Begegnung gewesen. Die längste, die es je zwischen uns gegeben hat. Ein Gespräch mit allem, was dazugehört. Und wieder hatte ich die Nähe, die dabei entstanden war, vergessen. Hätte ich dieses Gespräch nicht auf Kassetten aufgenommen, es wäre unwiederbringlich verloren gewesen. Wie seine beiden Brüder hatte ich auch M41 zu Großvater interviewen wollen. Gelegenheit dazu bot ein Besuch bei meinem Vater im Mai 2003. Denn M41 wohnte damals in Bayern. Böhmfeld: Auch der Name des Ortes wäre mir entfallen, hätte ich ihn nicht neben das Datum des Gesprächs auf die Kassettenhüllen geschrieben. Ein Blick in den Atlas verrät, dass es sich um eine kleine Gemeinde nördlich von Ingolstadt handelt, die sich vor allem durch ihre Nähe zur A 9 auszeichnet. Und das würde passen, denn wenn ich mich recht erinnere, war M41 irgendwie an der Autobahnerweiterung beteiligt (oder war es die neue ICE-Trasse?). Dass man ihn überhaupt besuchen konnte, war allerdings ein Glücksfall. Einen wirklich festen Wohnsitzhatte er nämlich schon lange nicht mehr. Er lebte dort, wo er gerade Arbeit fand. Was hatte er seit der Insolvenz nicht alles angestellt, um die Forderungen seiner Gläubiger zu bedienen und um zum Unterhalt seiner Kinder beizutragen: Import, Export Russische Föderation. Steine. Kohle. Dies und das. Mal hier, mal da. Und jetzt? War er halt wieder bei seinen beruflichen Wurzeln gelandet: Straßenbau. Warum nicht? Scheißegal. (Was sollte er bis zu seinem Tod nicht noch alles anstellen: Waffenkonvois in den Irak begleiten, von Norden durch sunnitisches Gebiet, mitten im Krieg. Und dann wieder irgendein Ingenieursjob auf irgendeiner Baustelle in Nordbayern, möglichst nah an der tschechischen Grenze.)
Was solls, dooh, jammern nütz’ nix.
Als er mich vom Bahnhof abholte, in einem sandfarbenen Benz, der ihm von der Baustellenleitung zur Verfügung gestellt worden war, schwitzte er. Wir fuhren zu ihm nach Hause. Seine Wohnung hätte liebloser nicht sein können. Zwei Zimmer Erdgeschoss in der Provinz, notdürftig möbliert, ungelüftet, unaufgeräumt, inmitten einer gleichgeschalteten Zone aus gepflegten Rasenflächen, Waschbetonwegen und Riesentrampolinen. Dieser Umgebung wegen war es ihm vermutlich auch egal, dass sich die Jalousie der Terrassentür auf halber Höhe verklemmt hatte. Mit deutlicher Schlagseite hing sie vor dem Ausblick auf die Mitte der Gesellschaft: das einzige Bild, das sich mir aus der Wohnung eingeprägt hat. Die Erinnerung an das Gespräch kommt erst beim Anhören der Aufnahme wieder. Nein, sie kommt nicht. Sie ist sofort da. So wie M41 sofort da war, wenn man ihm begegnete. Die Gespräche mit seinen beiden Brüdern, M44und meinem Vater, sind beim erneuten Hören vor allem informativ. Sie verraten etwas über ihren Vater, über ihre Kindheit in der Heide, über sie selbst; mal sagen sie es direkt, mal indirekt, mal absichtlich, mal unabsichtlich, aber immer erzählen sie ihre Geschichte, einen Text, den sie offensichtlich nicht zum ersten Mal loswerden und auf eine fast irritierende Weise unter Kontrolle haben.
M41 hatte nichts unter Kontrolle. Er freute sich zunächst mal, dass da jemand gekommen war, mit dem er den Sonntag verbringen konnte. Alles andere würde sich schon ergeben. Über Großvater willst du reden? Nur zu, dooh. Und wie immer war er neugierig. Er wollte auch etwas von mir wissen. Ihn interessierte der Forschungsstand in Sachen SS. Nicht unbedingt, um etwas über seinen Vater zu erfahren – sondern vor allem über sich selbst.
»Weißt du, dass ich in der SS war? Mit der Geburt, dooh.«
»Nee.«
»Doooch.«
»Nein, wusste ich nicht, wollte ich sagen.«
»Ich dachte, ich
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