Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
hatte er noch einen Kursus in Bildhauerei besucht. Und nun sollte er in Aumund, einer Nachbargemeinde seiner Heimatstadt Vegesack, beerdigt werden. Die Kapelle war so überfüllt, dass sich vor dem Eingang eine große Menschentraube gebildet hatte, die während der langen Feier geduldig im Frühlingsregen ausharrte. Unter den Trauergästen befanden sich der Bremer Bürgermeister und M44s Ex-Schwiegermutter. Viele von ihnen weinten. Auf dem Sarg, der umgeben von Kränzen und Kerzen in der kleinen Apsis stand, lagen prächtige Blumengebinde. Ausführlich und mit einer sehr persönlichen Note wiederholte die Pastorin die Geschichte, die M44 schon zu Lebzeiten über sich erzählt hatte. Immer wieder unterbrach sie ihre Rede, um der Trauergemeinde Zeit zum Singen zu geben. Und es wurde viel gesungen an diesem regnerischen Tag: die Lieder des Luthertums, die Lieder des Freundeskreises, die Lieder der Heide.
Zwei Reihen vor mir saß M41, sofort erkennbar an der Breite seines Kreuzes, den nach vorne gerollten Schulternund den Schuppen auf dem schwarzen Anzug. Weil ich spät gekommen war und weil die Trauernden sich am offenen Grab zu einer langen Warteschlange formierten, konnte ich ihn erst später auf dem Parkplatz begrüßen. Wackelig, um nicht zu sagen wankend, kam er auf mich zu. Das Verhältnis des breiten Bauchs und der noch breiteren Hüfte zu den leicht x-förmigen Beinen ließ einfach keinen anderen Gang zu. Ich hatte ihn zuletzt vor sechs Jahren getroffen und war erstaunt über sein Aussehen. Die spärlichen Informationen meines Vaters, der als einziges Familienmitglied in Kontakt mit ihm stand, hatten Schlimmeres befürchten lassen. Seine Haare, von denen einige büschelweise zu Berge standen, mochten noch etwas spärlicher und weißer geworden sein, aber der gelblichgraue Teint seines Gesichts und die bläuliche Schwärze der mächtigen Tränensäcke hatten sich erstaunlich gut gehalten. Seine Augen blickten ohnehin schon lange so müde, dass nur die endgültige Leblosigkeit ihren Ausdruck noch hätte steigern können. Und wie immer war ich auch bei dieser letzten Begegnung überrascht und sofort eingenommen von der Lebendigkeit, mit der sich plötzlich inmitten dieser gewaltigen Last die Person regte.
»Na, du«, sagte er ziemlich laut, mit anziehender Stimme, so dass es wie »naah, doooh« klang, und ließ dann ohne Übergang ein noch lauteres, ebenso grundloses wie herzliches Lachen folgen. Seine fleischige Hand schoss warm in die meine, während ich mich nach seinem Befinden erkundigte und er wie immer entgegnete: »Dooh – wie solls mir gehen?«, als hätte er den Sinn dieser Quatschfrage noch nie verstanden. Und sofort danach, ebenfalls wie immer: »Muss ja, dooh. Muss ja.« Wir stiegen in verschiedene Autos. Beim anschließenden Essen, das in einem Restaurant auf dem ehemaligenVulkangelände stattfand, saßen wir weit auseinander. Ich kann mich nicht erinnern, noch einmal mit ihm gesprochen zu haben.
Dass auch er das Begräbnis bekam, das er verdiente, war meinem Vater zu verdanken. Wie sehr M42 die Umstände zu schaffen machten, unter denen sein Bruder den Tod gefunden hatte, war nur indirekt zu bemerken: an der verhaltenen Freude, mit der er mir von der Beerdigung berichtete. Lange war überlegt worden, wo M41 begraben werden sollte. In Vegesack, wo er den Großteil seines Lebens zugebracht hatte? Nicht umsonst war er anderswo gestorben; die Stadt hatte ihm einfach kein Glück gebracht. An seinem letzten Wohnort? Das wäre unerträglich beklemmend gewesen, so zufällig wie er da gelandet war. In der Heimat seiner zweiten Frau, mit der er technisch gesehen noch verheiratet war? Nicht nur wäre dazu eine Überführung in die Slowakei nötig gewesen – seine Frau hätte es auch anbieten müssen; aber das tat sie nicht.
Doch dann hatte M42 eine Idee. Zusammen mit W36 und M41s Kindern, drei Töchtern und einem Sohn aus zwei gescheiterten Ehen, kaufte er eine Grabstätte auf einem Naturfriedhof in Niederbayern, nicht allzu weit von München und so nah, wie man in Deutschland der Slowakei eben kommen kann. Außer diesen sechsen war denn auch niemand zur Beerdigung gekommen. Aber das schien in Ordnung gewesen zu sein. Jedenfalls klang aus dem Bericht meines Vaters Erleichterung. Als hätte das Leben seines Bruders nach dem desaströsen Tod noch ein zweites, versöhnlicheres Ende gefunden. Er schilderte die Schönheit der Friedhofslandschaft. Mehrfach betonte er, dass M41 die Wahl des Ortes bestimmt
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