Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
gefallen hätte. Das Grab liege auf einer kleinen Anhöhe, diedem Besucher einen wunderbaren Ausblick biete. Es werde durch einen unbehauenen Naturstein ohne christliche Symbolik markiert, auch das sei sicher im Sinne des Verstorbenen gewesen. Und dann sagte er noch, die Kinder der deutschen Frau und die Kinder der slowakischen Frau, die sich am Grab ihres Vaters zum ersten Mal begegnet waren, hätten offenbar Zugang zueinander gefunden.
Es war klar gewesen, dass ich nicht zur Beerdigung kommen würde. Aber warum eigentlich? Auch bei längerem Nachdenken fällt mir keine Antwort ein, zumindest keine, die mich nicht beschämen würde. Als M44 gestorben war, hatte ich keinen Moment gezögert. Dem Ruf an sein Grab nicht zu folgen wäre mir schlicht unanständig vorgekommen. Ich hatte den Onkel früher bewundert, weil er in dieser stocksteifen Familie einen Hauch von Freiheit verströmte, und auch als Nazijäger besaß er meinen Respekt. Aber im Grunde war das eine soziale Beziehung gewesen. Frei von persönlichen Gefühlen, beruhte sie darauf, dass ich ihm die Anerkennung gewährte, die er stillschweigend für sich beanspruchte. Dagegen stand mir M41 auf eine merkwürdige Weise nahe. Als einziges von den fünf Geschwistern meines Vaters. Aber warum war diese Nähe merkwürdig? Weil ich mir ihrer immer erst bewusst wurde, wenn sie da war. Ihr ging keine Anziehungskraft voraus, keine Erinnerung folgte ihr nach.
Es ist bezeichnend, dass ich am Anfang meiner Erzählung behauptet habe, ich sei bei meinen letzten Besuchen in der Weserstraße mit Großmutter allein gewesen. Das stimmt nämlich nicht. Oft saß M41 mit am Tisch. Und oft schaute ich nachmittags noch in seinem Büro vorbei, im Turmzimmer, das vor vielen Jahren die Bibliothek seines ihm unbekanntenGroßvaters gewesen war. Er freute sich immer, wenn ich kam. Wie für seine Mutter gab es ja auch für ihn nur noch selten Gelegenheit zum unbeschwerten Gespräch. Er verließ seinen Schreibtisch, von dem aus er einen herrlichen Ausblick auf die Unterweser und das Oldenburger Land hatte, und bat mich an den Konferenztisch. An der Wand hing eine große Landkarte, in der unten rechts mehrere Fähnchen staken. Über dem Bild stand in großen kyrillischen Buchstaben Sojus Sowetskich Sozialistitscheskich Respublik . Auch wenn das Land kürzlich untergegangen war: es verband uns, wir kannten es beide. Aber er kam ohne Reisebegleitung aus. Er war nie als Tourist dort gewesen. Er wurde gebraucht.
Zwei Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion geboren, erreichte er fünfundvierzig Jahre später mühelos das strategische Ziel des Feldzugs, den Ort, von dem die Oberste Heeresleitung immer nur geträumt hatte: die Ölfelder Bakus. Und von dort erzählte er. Von schwarzen Seen und Fördertürmen bis zum Horizont. Von schwitzenden Parteifunktionären in der Sauna. Von Besäufnissen mit den Ingenieuren. Mit Wörtern, die ich noch nie gehört hatte: Ölschlamm. Dschoind Ventscha. Karascholeo. Ich hörte ihm gerne zu, eher vergnügt als gebannt, denn obwohl die weite Welt aus ihnen sprach, rührte das Erlebnis des Zuhörens vor allem von der Art des Erzählens her. Er schien besorgt um die Wirkung seiner Geschichten. Warum sonst hätte er, noch bevor ich hätte reagieren können, auf die meist skurrilen oder komischen Höhepunkte einen von starkem, heiserem Lachen begleiteten Verstärkungslaut folgen lassen, der etwa so klang: »Oh neee, doooh!« Aber er erzählte auch gut. Vor allem verstand er es, vor den entscheidenden Stellen die Spannung zu erhöhen, indem er umständlich seine Sitzposition veränderte,einen kräftigen Schluck Kaffee nahm und sich eine neue HB anzündete. Wenn ich wieder gehen wollte, hielt er mich nicht auf, obwohl er gerne noch weiter erzählt hätte. Er wischte sich die Aschebrösel von seinem ausgeleierten Wollpullover und brachte mich zur Eichentür, hinter der sich das immer wieder überraschend helle Treppenhaus befand, ein architektonisches Meisterwerk: Durch das trübe Oberlicht fiel Streulicht in die Tiefe, und als seien sie mitten im Sturz angehalten worden, hingen Kugellampen aus weißem Glas in der Luft.
In seiner Welt strahlte M41 eine unverwüstliche Lebenskraft aus, ein bisschen laut vielleicht, aber immer von ansteckender Heiterkeit. Ihn zusammen mit seiner Mutter am Esstisch zu sehen war dagegen ein Bild des Jammers. Zwei erschöpfte Menschen in einem riesigen Haus, das sie sich schon lange nicht mehr leisten konnten. Im ökonomischen Sinn
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