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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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konnte es sich natürlich nur M41 nicht mehr leisten, ihm gehörte es schließlich. Dass er sich trotz der unabwendbaren Pleite seines Geschäfts nicht zum Verkauf entschließen konnte, hatte aber sehr wohl mit seiner Mutter zu tun. Niemand trug den Namen Leo so stolz wie sie, und nirgendwo wurde die Bedeutung dieser Familie für sie greifbarer als in dem großen Haus. Sie mochte in der Stadt nie ganz heimisch geworden sein – in der Villa am Hochufer zu leben hatte sie immer als Ehre verstanden. Und als Verpflichtung.
    »Bedenke, dass du ein Leo bist« – das konnte Trina ihren Kindern sagen, wenn sie etwas an ihnen auszusetzen hatte.
    M41 wusste, dass das Haus verloren war. Aber ein tiefsitzendes, ihm selbst nicht ganz verständliches Gefühl wollte, dass die Mutter das nie erführe. Oder wenn, dann erst, nachdem sie ausgezogen war. So zögerte er den Verkauf hinaus,und weil er dafür den Konkurs seiner Firma verschleppte, kostete ihn das eine Menge Geld. Für Trina dagegen gehörte die Rettung des Hauses zu den wenigen Dingen, die sie noch am Leben hielten. Kein Tag verstrich, ohne dass sie mit ihrem Sohn neue Möglichkeiten der Sanierung erwogen hätte. Er war Geschäftsmann genug, um zu wissen, dass es da nichts mehr zu erwägen gab, während ihr ökonomisches Vokabular aus einer Zeit und einer Gesellschaft stammte, in der Liquiditätsengpässe die nächste Fuhre Saatgut oder die letzte Forderung des Finanzamts betrafen.
    »Wer könnte denn nur für mich gutsprechen? Irgendwer muss doch für mich gutsprechen können«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
    »Mutter«, antwortete M41, genervt in der Sache, aber geduldig im Tonfall, »wer auch immer für dich bürgen könnte: Er würde Sicherheiten sehen wollen. Aber die haben wir nicht, weil das Haus längst der Bank gehört. Das ist doch genau das Problem. In deiner Kalkulation beißt sich die Katze in den Schwanz.«
    Dat mag ween, as dat woll; aver von nix kümt ok nix, dachte Trina. Moss’ barf bi gaan – das hatte sie von ihrer Mutter zu hören bekommen, immer wenn ein Problem sich von der Wirklichkeit in den Kopf zu verlagern drohte. Und sie hatte den Satz an ihre Kinder weitergegeben. Und die wiederum an die ihren. Ich jedenfalls musste ihn mir verlässlich anhören, sobald ich mich bei der Erledigung irgendeiner Pflicht »anzustellen« begann. Und Trina ging die Sache an, zwar nur mit den bescheidenen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, aber egal – was zählte, war der Wille, einem sich abzeichnenden Unglück nicht tatenlos zuzusehen. Also begann sie, Lotto zu spielen. Nicht normales Lotto, das wäre zu ernüchterndgewesen, sondern das Gewinnspiel von Reader’s Digest. Die schrieben immer so nett. Viel Post bekam Trina nicht mehr, da freuten sie die persönlichen und immer ermutigenden Worte des Herausgebers umso mehr: Herzlichen Glückwunsch, Frau Leo! Sie haben alle 6 strengen Zulassungsbedingungen erfüllt. Sie sind für sämtliche Elite-Gold-Privilegien autorisiert und haben Aussicht auf Gewinne im Gesamtwert von DM 1   000   000. Demenz-Marketing nennt die Stiftung Warentest so was. M41 konnte es nicht fassen, aber die Mutter ließ sich nicht davon abbringen. Bis zum Ende, als ihr Hausstand schon für den Rückzug in die Heide verpackt war, spielte sie um ihre Existenz. Und verlor. Der letzte ihrer vielen Briefe, der gewinnbringende und für immer erlösende, erreichte sein Ziel nicht mehr. Auf dem Postamt brach Trina zusammen.
    Alle sechs Kinder hatten die Mutter geliebt. Jedes auf seine Weise, das eine lauter, das andere leiser, das eine rein und unverstellt, das andere vermischt mit anderen Gefühlen, das eine offenherzig, das andere tief in sich verborgen. M41 hatte seine Mutter im Verborgenen, aber tief und unvermischt geliebt. Doch die Trauer um ihren Verlust wurde von einem anderen Gefühl verstellt: unbändiger Wut auf den Vater. Nicht, dass diese Wut neu für ihn gewesen wäre. Im Gegenteil, er lebte mit ihr seit seinem sechsten Lebensjahr, seit dem Tag, als dieser ausgezehrte, hartleibige Mann plötzlich aufgetaucht war und alles durcheinandergebracht hatte. Aber Unversöhnlichkeit gehörte nicht zu M41s Eigenschaften. Als Friedrich gestorben war, hatte ihn das kaltgelassen, nicht mehr und nicht weniger. Doch als er nun endlich, viel zu spät, nach dem Tod der Mutter den Verkauf des Hauses in Angriff nahm, sah er auf einmal die Fratze des Vaters vor sich, so deutlich, als hätte sich der Sargdeckel über ihm nie geschlossen.

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