Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
guck nicht richtig, als ich meinen Mitgliedsausweis unter Vaters Sachen gefunden habe.«
Er will das sofort loswerden, gleich zu Anfang. Und er kommt immer wieder darauf zurück, als ob ihm diese Formalie einen Schlüssel zum Verständnis seines Lebens böte. Ich habe nicht herausfinden können, ob die Mitteilung stimmt. Ob es überhaupt Kindermitgliedschaften in der SS gegeben hat. Nicht, dass ich M41 unterstellen will, er habe sich das ausgedacht; aber möglicherweise hat er in eines der Geburtsdokumente, die am 22. August 1941 im SS-Lebensborn-Heim in Wernigerode ausgestellt wurden, etwas zu viel hineininterpretiert. Doch im Grunde ist das egal. Zum einen istdie Information durchaus plausibel. Sie passt ins Bild eines Züchtungsordens. Andererseits, und das ist viel wichtiger: Er war der erste Sohn eines SS-Offiziers, und er wurde auch so behandelt. In diesem Sinne gehörte M41 mit Leib und Seele der SS an. Aber kann ein Kleinkind der SS angehören? Vielleicht sollte man eher sagen, er gehörte der SS, das trifft den Sachverhalt wohl besser. Jedenfalls endete diese Mitgliedschaft nicht, wie alle Formen der offiziellen Zugehörigkeit zu NS-Organisationen, durch das Alliierte Kontrollratsgesetz No. 2 mit Wirkung vom 10. Oktober 1945. Sie endete um den 23. Juni 2011.
»Ich war SS, doooh!« – auf diesen Schrei hatte er wahrlich ein Anrecht. Und endlich interessierte es mal jemanden.
Obwohl sie mehrere Stunden dauert, lässt sich die Aufnahme ohne Ermüdung anhören. Sie sprudelt vor Leben. Denn nicht nur in den gesprochenen Worten, auch zwischen ihnen herrscht ein unverwechselbarer Sound. Ein Gattungsrauschen. Menschenkörpersound. Offenbar haben wir Kuchen gegessen. Einer von uns kaut hörbar. Der andere kaut laut. Und noch während des Kauens spült er den Bissen mit einem langen Kaffeeschlürfgeräusch runter. Schlucken. Wups. Ahhh. Alle paar Minuten raucht er eine Zigarette an. Rascheln. Klick. Einsaugen. Plastik trifft auf Glas. Langes Auspusten. Stille.
»Wo waren wir stehengeblieben?«
Er fragt oft zurück. Teils rhetorisch, teils wissbegierig, aber beides unterstützt den Eindruck, dass hier, anders als mit seinen Brüdern, ein echtes Gespräch stattfand, nicht nur ein Interview. Viele seiner Sätze sind elliptisch, sie gehen halbfertig in Nachdenken über, in Unsicherheit über die letzte Behauptung oder in Begeisterung über die letzte Pointe, inRegungen, die sich nicht bis zum Satzende gedulden können, oder in eine neue Erinnerung, die mitten in der Rede aufgetaucht ist wie eine von nächtlichem Blitz erhellte Blüte. Dann wieder hörbares Grübeln. Kauen. Schlürfen. Wups. Stille. Rascheln. Klick. Einsaugen. Plastik auf Glas. Auspusten. Lautes Husten mit Auswurf.
»Gute Frage«, sagt er ein paar Mal. Und denkt dann nach. Oder: »Das habe ich mich selbst oft gefragt, aber ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.« Um dann doch eine Antwort auszuprobieren: »Es könnte sein«, so beginnt sie meistens, das Wort könnte laut und anziehend betont, und zur Verstärkung gleich noch einmal: »Es könnte sein, dass …«
Dass was?
Es könne zum Beispiel sein, dass der Vater ihn immer so hart rangenommen hat, weil er der SS-Erbe war. Der älteste Sohn eines Mannes, der die Behauptung biologischer Höherwertigkeit mit seinem Scheitern in Einklang bringen musste. Fleisch von anspruchsvollem Fleische. Die Verkörperung einer Körperphantasie.
Auf meine Nachfrage rief er: »Genau – weil ich SS war!« Das hinterhergeschobene »jaa, doooh« klingt wie die musikalische Verstärkung eines Gedankens, dem er selbst nicht so ganz zu trauen schien. Die Schutzstaffel, nicht die längst untergegangene Organisation, sondern die Idee, hat Vater und Sohn auf eine so fatale Weise aneinander gebunden, dass sie füreinander zu Albträumen wurden: So ließe sich der Gedanke vielleicht formulieren. Der Alte hat in ihm das eigene Ideal gesehen, sonst nichts, das ist der Albtraum des Sohnes. Von ihm wird immer nur das Höchste verlangt.
»Was meinst du denn, wenn du sagst: das Höchste?«
Nachdenken. Rascheln. Klick. Pusten. Glas.
»Gute Frage.«
»Hat er keine Erwartungen formuliert? Wollte er nicht, dass du dich bildest? Dass du etwas lernst und dann Höchstleistungen bringst?«
»Neee. Eben nicht. Klavierunterricht zum Beispiel bekam nur dein Vater, obwohl Vierli viel musikalischer war. Auch Gymnasium wurde von uns nicht erwartet, als Zweili es dann schaffte, staunten alle. Aber im Grunde waren wir einfache Dorfkinder,
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