Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
auch wenn wir nicht richtig dazugehörten. Wir hatten Pflichten im Haushalt und im Garten, viele Pflichten, klar. Aber davon abgesehen waren das nur lauter hehre Worte, die gar nicht zu unserem sonstigen Leben passten: Edel, edel, immer musste alles edel sein, dooh, Deutschland, Deutschland, Land der Dichter und Denker, Land der Landschaften, Land der treuherzigen Edelmenschen, anständig und echt und hochwertig und voll innerer Freude. Und dann das andauernde Moralgeschwätz, dooh, die Tiraden gegen den Schund: keine Jeans, keine Tanzmusik, keine Flachdächer, kein Fußball, kein dies, kein das: Was er für minderwertig hielt, konnte er immer sehr genau sagen – aber der Inbegriff alles Hochwertigen und Edeldeutschen: das waren schlicht und einfach wir. Wir Leos. Wir? Und warum bitte? Dooh, das hab ich nie kapiert.«
»Also viel Gewese um Hokutisi.«
»Um was?«
»Hokutisi. Hochkultur und Tiefsinn. Kennst du gar nicht?«
»Neee« – lautes, bronchial getöntes Zustimmungslachen – »Hookuutisi, ganz genau, dooh. Ganz genau. Und zwar Hokutisi auf Drogen. Aber nix dahinter! Das war ja das Schlimme: dass er dich ständig fertigmachte, weil du gewöhnlicher warst als Goethe und nicht so zackig wie Heydrich– aber sein eigenes Leben, das kriegte er hinten und vorne nicht auf die Reihe.«
Der Vater hat für M41 zwei Gesichter. Und die passen nicht zusammen, je genauer er beide kennenlernt, desto weniger. Das eine ist der Vater, der große Geschichten über sich selbst erzählt. Der heldenhafte Soldat. Der angebliche Ober sturmbannführer in ständiger Tuchfühlung mit Übermenschen wie Himmler und Beka Schultz. Der Waldkundler. Die Kinder glauben, er sei Förster. Und dann ist da der Mann, der in seinen Geschichten strahlt, aber in der Wirklichkeit nicht. Der erzählte Vater kämpft gegen eine Welt aus Feinden, der echte Vater kämpft gegen die Welt, in der er lebt, und das bedrängt die Kinder. Bis er kam, gehörten sie zur Mutter. Und die gehörte zum Dorf. Das provisorische Haus mochte eng sein, die ewigen Bratkartoffeln karg – Mutter und Dorf umgaben sie wie eine doppelte Schutzhülle. Aber von einem Tag auf den anderen ist alles anders: Nun herrscht Krieg. Plötzlich muss um alles gekämpft werden. Als ob sie ihm irgendwas übel nähmen, gucken die Leute aus dem Dorf den Vater an. Sie sprechen kaum mit ihm, und wenn, dann ganz anders als mit der Mutter. Aber das Behelfsheim ist sowieso zu klein für alle. Also Rückzug. Hinter den Wald. In ein Haus in der Heide. Es gehört einem Bäcker aus Bremen, aber er scheint es auch dem Bauern Gütersloh für seinen Verwalter versprochen zu haben. Darum fackelt der Vater nicht lange. Im Morgengrauen rücken sie mit Sack und Pack auf einem Unimog an und nehmen das Haus im Handstreich. Wenig später sind auch Gütersloh und seine Leute da. Die Kinder verstecken sich hinter dem großen Fahrzeug. Der Vater nicht, er geht auf Bauer Gütersloh zu, diesen schlimmen, gefährlichen, vermutlich bis an die Zähne bewaffneten Bösewicht, und tippt ihm mit demZeigefinger auf die Brust: »Das ist unser Haus«, sagt er, »wenn du es haben willst, dann musst du Krieg gegen mich führen. Aber das würde ich dir nicht raten.« Klei mi ann Mors, murmelt der Bauer in seine Bartstoppeln und zieht ab. Er kommt nicht wieder, doch das Grundstück befindet sich inmitten seines Pachtgrundes. Sobald die Kinder es verlassen, betreten sie Feindesland. Dann sind sie auf der Hut und alle ihre Sinne sind hellwach.
Das ist jetzt ihr Zuhause.
Zur einen Seite erstrecken sich Felder, Wiesen und birkengesäumte Sandwege, bis irgendwann die Landstraße nach Verden kommt. Auf der anderen Seite steht, wie eine lange dunkle Mauer, der Wald. Hinter dieser Mauer liegt Ahausen, das fremde Dorf, das beinahe ihre Heimat geworden wäre. Auf der Insel zwischen diesen beiden Hemisphären errichtet Friedrich Leo mit seiner Familie eine Wehrsiedlung. Im Grunde macht er tatsächlich, was er sich für die Zeit nach dem Krieg vorgenommen hatte – nur einige tausend Kilometer weiter westlich und umgeben von Feinden, die lustigerweise deutsche Bauern sind. Viel hat er nicht gelernt im Leben, aber das Training in den Quecken bei Fährbrunn, das kommt ihm jetzt zupass. Ein Land »urbar« machen – als M41 erfährt, was das bedeutet, hat er es längst mit eigenen Händen getan. Hat Wurzeln gerodet, den Heideboden »abgeplackt« und umgegraben. Und dann Plantagen angelegt. Ein Jahr später ist alles grün und bunt.
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