Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Wirbelsäule wird diese Achse durch ihn hindurchlaufen, ihn aufrichten und halten, indem sie seinen Körper zwischen Himmel und Erde aufspannt.
Natürlich kann man den Sachverhalt auch geläufig ausdrücken. Am 22. September 1909, hieße es dann, zog die Familie des Gymnasialprofessors Heinrich Leo innerhalb der Weserstraße um: aus dem Kapitänshäuschen an ihrem nördlichen Ende in die stolze Villa mit der Hausnummer 84. Doch das wäre ein Satz für das Einwohnermeldeamt, der sich um Unterschiede nicht kümmert. Oder wenn, dann um die falschen. Für das Brüderchen Friedrich etwa, das gerade mallaufen kann, ändert sich durch den Umzug ja so gut wie nichts. Höchstens wird seine Bewegungsfreiheit etwas eingeschränkt, denn anders als im alten Haus muss er nun erst eine steile Holztreppe überwinden, um in den Garten zu gelangen; und dort droht dann auch noch der Uferhang. Die Mutter wiederum muss sich zwar an neue Räume gewöhnen, doch die Situation kommt ihr auch vertraut vor: Schließlich lebt sie sieben Jahre nach der Hochzeit wieder mit ihrer Mutter unter einem Dach; das wird zwiespältige Gefühle ausgelöst haben, auch wenn man abends einen dritten Kartenspieler gut gebrauchen kann und Platz genug ist, sich aus dem Weg zu gehen. Der Vater allerdings gewinnt eine Menge, vor allem Raum und Prestige. Er besitzt nun ein ganzes Stockwerk zum Arbeiten und Studieren; und er wohnt plötzlich in einem herrschaftlichen Haus, einem der größten in dem blühenden Hafenstädtchen – nicht schlecht für einen ehemaligen Mittelgebirgsbewohner Anfang dreißig. Aber all das hätte er auch in einem Landhaus beim Schönebecker Schloss haben können. Für Martin hingegen (und wohl auch für seinen kaum jüngeren Bruder Heinz) ändert sich auf einen Schlag das ganze Leben.
Man muss sich vorstellen, was es für ein sechsjähriges Kind bedeutete, in genau dieses Haus einzuziehen. Zumal für ein so empfängliches Kind wie dieses. Zumal zu genau diesem Zeitpunkt. Bis zur Einschulung sind es noch sieben Monate, bis zum Kriegsausbruch noch fast fünf Jahre. Kindergärten gibt es nicht. Unbedrängt von Geschichte und Gesellschaft kann es seine ganze Aufmerksamkeit der unmittelbaren Umgebung schenken: den Menschen, die ihm vertraut sind, und dem Raum, den es überschaut. Martin hatte Glück! Plötzlich muss er nur noch eine geschwungene Treppe hinunterlaufenund eine Eingangshalle durchqueren, dann ist er bei seiner Großmutter. Der geliebten Großmutter, über die er schreibt: Die Wirkung, die von ihr ausging, war für mich ein reiner Strom von innerer Kräftigung und von Freude. Von der ersten Begegnung an scheint dies etwas Gegenseitiges gewesen zu sein. Wir hatten zueinander gefunden, als hätten wir schon eine unerschöpfliche Fülle herrlichster Erlebnisse gemeinsam ausgekostet. Nicht einen Augenblick war etwas zwischen uns wie Fremdheit oder Missverstehen. Das war so selbstverständlich und stand so felsenfest, dass sich die ganze Verwandtschaft nicht genug darüber wundern konnte. Die Wohnung im Hochparterre wirkt auf ihn wie eine unerschöpfliche Schatzkammer. Zuweilen ist es wirklich der Reichtum, der ihn betört. Wenn die Großmutter in ihrem riesigen Esszimmer eine Abendgesellschaft gibt, dann entfaltet sich dort eine Pracht, die in Vegesack ihresgleichen sucht.
Einige Gesichter der Gäste mögen dem Jungen vertraut sein, andere nicht, in ihren dunklen Anzügen und den wallenden Kleidern wirken sie allesamt wie einem Bilderbuch entsprungen. In endloser Karawane ziehen teils verlockend unvertraut, teils herrlich nach Weihnachten duftende Speisen durch den Saal, der im Glanz von geschliffenem Kristall, weißem Porzellan, poliertem Silber und Spiegelglas erstrahlt. Vor dem milden Kerzenlicht haben sich die vertäfelten Wände tief in die Dunkelheit zurückgezogen, die Bilder scheinen im Raum zu schweben: Schemenhaft zeichnen sich Jesus und seine Jünger auf Leonardos Abendmahl ab, einem originalgroßen Kupferstich von flämischer Hand, umgeben von rätselhaften Gebäuden in allegorischen Landschaften, Erbstücken eines längst verstorbenen Meisters vom Stuhl. Kaum zu glauben, dass es wirklich nur ein schwerer Vorhang ist, der diese Pracht vor den Blicken der Straße schützt. Doch wohersonst sollte das Hufgeklapper und hin und wieder das Dröhnen eines Automobils kommen? So hoch ist der Raum, dass man die mit dunkelrotem Tuch bespannte Decke nur ahnt. Die Farbe kommt Martin bekannt vor; sie erinnert ihn an die
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