Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
können, Ludwig Richters Holzschnitte etwa, oder die Geschichte vom Roggenkörnlein, das seinen Weg aus den Händen des Bauern in den Boden findet und von dort in die Ähre, zur Mühle, in die Bäckerei und schließlich in das Schwarzbrot auf dem Esstisch. Überhaupt geht beim Vater alles seinen Weg – wie der Wandersmann und sein Bruder im Geiste, der Soldat. Beides ist er selbst mit großer Hingabe, und zumindest die Leidenschaft für das Wandern leuchtet Martin auch ein. Eine bemalte Porzellanplatte auf einem runden Tischchen zeigt eine Landschaft, die für den Vater das Gleiche ist wie die Marsch für seinen Sohn. Von dort stammen die Geschichten, an denen der Junge sich nicht satthören kann. Geschichten, die oft nicht mehr enthaltenals Schilderungen einer Welt, in der schon jenseits des angrenzenden Waldes oder über der nächsten Bergkuppe alles ganz anders aussehen könnte als im eigenen Dorf. Noch mehr muss der Junge seine Vorstellungskraft anstrengen, wenn er begreifen will, in welchem Zusammenhang die väterliche Heimat mit den seltsamen Dingen steht, die in der großen Holztruhe verwahrt werden. Die Bilder aus der Treppenhalle helfen ihm dabei. Von ihnen weiß er, dass es vertraute Gesichter gibt, die einen Rest an Fremdheit nie verlieren. Wie oft hat er etwa den Mann betrachtet, dessen Gesicht er kennt wie das eines Onkels, obwohl er nichts über ihn zu sagen wüsste, außer dass er »Böhner« hieß; oder den »Bohnenjungen« in den barocken Kniehosen und der seltsam langen Jacke, von dem er weiß und es doch nicht glauben kann, dass er sich eine Bohne ins Ohr steckte und starb, als sie zu quellen begann.
So ungefähr jedenfalls kann er sich auch vorstellen, dass ein Vorfahr mal das Löwenwappen mit dem großen »Petschaft«, das er gerade in der Hand hielt, auf ein dickes Papier gedrückt hat; auch wenn »Jena« natürlich ein viel lustigerer Städtename ist als Bremen oder Oldenburg und »notarius publicus« ein viel geheimnisvollerer Beruf als Lehrer oder Kapitän. Auf gleiche Weise fremd und vertraut ist ihm auch das »Nürnbergisch Ey« eines anderen Vorfahren. Natürlich hat Martin schon mal eine Taschenuhr in der Hand gehabt, aber dieser hier fehlt ja der zweite Zeiger, und statt der Ziffern sieht man nur verschlungene Linien, die dem Betrachter eine »Mondphase« anzeigen sollen, was immer das ist. Und auch von den »Befreiungskriegen« hat dieses Kind keinen Begriff, aber dafür eine umso lebhaftere Anschauung. Sie stammt aus dem Skizzenbuch, das ein längst verstorbener Leo um das –vom Vater mit fast liturgischem Bedacht ausgesprochene – Jahr »1813« in Leipzig angefertigt hat. Berittene Kosaken sieht man da und eine so große Zahl unterschiedlicher Soldaten, dass man meinen kann, das Wort Uniform bezeichne sein Gegenteil, nämlich ein einmaliges Festgewand. Dass »Epauletten«, »Schärpen« und »Tschakos« zum Krieg gehören wie Gewehr und Säbel, das ist selbstverständlich für Martin; aber ahnt er, dass auch die vielen »Generalstabskarten« militärischen Ursprungs sind? Von jedem Stück Deutschland, durch das er gewandert ist, hat der Vater eine gesammelt und zusammen mit den »Messtischblättern« in einem herrlichen Stück Tischlerarbeit sortiert, das ebenso wie die Truhe der Meister Kroog aus Aumund angefertigt hat: ein bis unter die Decke reichendes Regal mit breiten, flachen Schubladen, das wegen seiner gewaltigen Größe »Munster« genannt wird. Und ahnt Martin, was in dem Raum passiert, wenn sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hat – wo doch vieles davon auch sein Leben berührt?
Der Vater ist durch und durch Pädagoge. Er fühlt sich der deutschen Jugend als ganzer verpflichtet, und zwar nicht in ihrem, sondern in Deutschlands Interesse. Das scheint sich herumgesprochen zu haben. Kurz nach dem Umzug hat ihn jedenfalls der Berliner Paetel-Verlag beauftragt, ein Buch zur Sammlung belehrender Unterhaltungsschriften für die deutsche Jugend beizusteuern. Bis in die Nacht hinein erübrigt er nun täglich ein paar Stunden für diese Aufgabe – das können die Steuermänner der vorbeifahrenden Schiffe bezeugen, denen das Turmzimmer am Hochufer seit einiger Zeit wie ein neuer Leuchtturm vorkommt. Und so fügt sich bald ein weiterer Band in die illustre Reihe, die bereits Titel wie Samoa, die Perle der Südsee (Otto H. Ehlers, Band 1), Der Deutsche Ritterorden (Wilhelm Holzgraefe, Band 11), Der Kampf um Südwestafrika (Franz Henkel, Band 24), Luftfahrten einst und
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