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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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jetzt (Franz M. Feldhaus, Band 28) oder Was da kreucht und fleucht (Hermann Löns, Band 31) umfasst. Er trägt die Nr. 47 und heißt Jungdeutschland. Wehrerziehung für die deutsche Jugend. Dass der Verfasser weiß, worüber er schreibt, soll ein kleines Foto auf dem Buchdeckel bezeugen. Es zeigt ihn, wie er in freier Wildbahn, mit Reserveoffiziersmütze und umringt von einer Schar ebenfalls bemützter Gymnasiasten, die Reichsfahne in den Wind reckt. Direkt daneben weht noch eine zweite, etwas kleinere Fahne. An der hält sich ein vielleicht siebenjähriger, schüchtern lächelnder Junge mit beiden Händen fest: sein ältester Sohn. Der gehört schließlich auch zur deutschen Jugend. Ach, wäre er doch in einer dänischen Hafenstadt zur Welt gekommen! Er hätte sonntags nicht mit seinem Vater und dessen Schülern ins Grüne gemusst; er hätte nicht so tun müssen, als wäre endlich Krieg; sich nicht rechtfertigen, weil ihm wieder einmal als Erstem alle Bindfäden, von denen jeder ein Leben symbolisierte, vom Ärmel gerissen worden waren; sich abends nicht fragen, ob seine Hose dem Vater auch schmutzig genug war. Und er hätte sich nicht angewöhnt, nur noch mit Vorsicht von dem zu sprechen, was ihm wichtig war. Den zarten Gefühlen für seine Großmutter zum Beispiel. Dass es da wirklich etwas zu verteidigen gibt, zeigt der suggestive Knittelvers, den der Vater seiner Schwiegermutter in ihr Exemplar des Buches hineingedichtet hat. Er liest sich wie das Machtwort eines ranghöheren Verwandten:
    Großmutter hält die Buben / Gern in den warmen Stuben, / Doch Vater jagt sie früh hinaus / In Sommerglut und Sturmgebraus, / Schwärmt ihnen vor von Völkerkampf, / Von Männermord undPulverdampf, / Von frischem, frohem Streifen / Und scharfem Kugelpfeifen. / Das imponiert dem kleinen Wicht, / Die gute Oma hält ihn nicht. / Doch daß sie ihn nicht ganz entbehrt, / Sie, die sein Herz so treu verehrt, / Grüßt hier der kleine Wilde / Großmütterchen im Bilde.
    Steht da wirklich »Männermord«? Ich entziffere das deutsch geschriebene Wort Buchstabe für Buchstabe, mehrmals, aber es bleibt stehen. Ein Zugeständnis an das Versmaß vielleicht? Nein – wer mit einem bewährten Euphemismus »Männermut« hätte schreiben können und unverhohlen »Männermord« schreibt, der will es so. Der will etwas klarstellen. Der will, dass sein Sohn den Schuss endlich hört. Schon länger meint der Vater nämlich zu wissen, dass Martin sich mit sanften Methoden nicht mehr korrigieren lässt. Denn der mag tatsächlich alles Mögliche sein: aufgeweckt, neugierig, begeisterungsfähig, drollig; nur ein »kleiner Wilder« – das ist er bestimmt nicht.
    Die Furchtsamkeit hatte sich schon früh gezeigt. Kaum zwei Jahre war Martin alt, als ein und dasselbe Ereignis bei ihm und beim Vater Entsetzen hervorgerufen hatte. Aber nicht gleichzeitig. Zuerst war da nur eine Dampfwalze, dann aber schrie der Sohn plötzlich, als hätte sie ihn nicht soeben passiert, sondern überfahren, schrie in Schmerz und Panik, und als er nicht aufhörte zu schreien, verwandelte sich das Mitgefühl des Vaters in Wut. Wann immer Martin von nun an in die Nähe großer oder lauter Maschinen gerät, schlagen die Nerven Alarm und der kleine Körper verkrampft sich wie in Abwehr gegen ein schlimmes Gift. Und als der Vater merkt, dass sich diese Empfindlichkeit nicht von selbst auswächst, geht er entschlossen gegen sie vor. Wann immer er nun mitseinem Sohn auf dem Seitenraddampfer die Weser befährt, verlangt er von ihm, ruhigen Schritts vom Bug zum Heck und zurück zu gehen. Zweimal an der unheimlichen Maschine vorbei. Wenn Martin ihn um Nachsicht bittet, weil er damit zu viel von ihm verlangt, nennt er ihn höhnisch »Martha« und besteht auf seiner Forderung.
    Dabei kann Heinrich Leo ein solches Verhalten kaum überraschen, im Grunde erwartet er es sogar. Von Feinden umstellt, drohe der deutsche Volkskörper an krankhafter Nervosität zu ermatten: Das glauben er und viele andere ja wirklich. Sonst müsste er nicht so viel Kraft aufwenden, um dagegen anzugehen. Und nicht mit Sätzen drohen wie diesem: Es hilft nichts: die Muttersöhnchen und Stubenhocker, die altklugen Jünglinge werden sich an die neue und doch uralte Art deutschen Jugendspiels gewöhnen müssen, und wer nicht zu ihnen gerechnet werden will, mag sich beeilen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Allerdings hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass auch sein eigenes Söhnchen von der Mutter stammen könnte.

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