Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Plüschmappen, die von der Großmutter in ihrem zierlichen Eichenschreibtisch verwahrt werden und ganz andere, viel feinere Schätze bergen. Auf jeden der Deckel ist mit goldgelber Seide ein Name gestickt. »Herkulaneum« – »Pompeji« – »Florenz« – »Siena« – »Rom« – »Venedig« – »Pisa«. Man meint die Szene vor sich zu sehen, weil man sie aus Filmen kennt: Zwei Damen in weißen Rauschekleidern und wagenradgroßen Prachthüten, die eine einen Picknickkorb in der Hand, die andere eine Großformatkamera über der Schulter, laufen einem schwitzenden Archäologen (es ist der Berliner Museumsdirektor Carl Schuchardt) hinterher, der schon vor der nächsten Ruine seine Gedanken sortiert und ohne Not immer wieder eine goldene Uhr aus der Anzugweste zieht. Martin sieht das nicht; er sieht nur die quartgroßen Fotografien, die ihm eine fremde, farblose und menschenleere Welt aus Kuppelkirchen, brüchigen Säulen und schlanken Bäumen vor endloser Hügellandschaft vorspiegeln.
Der Name »Italien« klingt wie eine Verheißung für ihn. Nie wird er diesem Lockruf folgen, so wenig wie dem, den er später aus »Chartres« vernimmt. Dass aber auch Reisen, die man nicht gemacht hat, enorm bereichern können: Wie so vieles lernt der spätere DDR-Bewohner auch das von seiner Großmutter. Ihr ganzes Leben lang sehnt sie sich nach der Insel Ceylon. Doch weil sie insgeheim weiß, dass dieser Reisewunsch unerfüllt bleiben wird, hat sie ihm im Wintergarten ein prächtiges Denkmal gesetzt. Inmitten von Schiefblattgewächsen, Farnen und Palmen blüht hier ein kleines StückRegenwald mit Weserblick. Bunte, zart duftende Pflanzen, denen nur eine aufopferungsvolle Pflege den Mangel an Sonne ersetzen kann. Und als wollte sie ihren tropischen Ziehkindern auch nicht einen Lichtstrahl zu viel nehmen, hat sie, als zu ihrem Einzug der Wintergarten angebaut wurde, das Fensterglas zum anliegenden Zimmerchen durch dunkelgelbe Butzenscheiben ersetzen lassen. In dieses dämmrige »Eichhörnchennest« zieht die Großmutter sich zurück, wenn sie mal für sich sein möchte. Hier darf sie abends die Steckfrisur lösen und dem röchelnden Punsch auf dem Stövchen lauschen. Hier ist der Platz für Dinge, über die man nicht spricht, ohne die das Leben aber nur halb so schön wäre: Süßigkeiten, Kitsch und Technik. Hier bergen chinesische Tontöpfe kandierten Ingwer und Porzellantrommeln sogenannte Neujahrskuchen: knusprige, mit Kardamom und Koriander gewürzte Waffelröllchen; hier gibt es Riechfläschchen aus grünem Glas, in denen durchsichtige Perlen in Eau de Cologne oder Salmiakgeist schwimmen; hier hält ein Schweizer Zwerglein unterm Regenschirm ein Schild, auf dem steht: Frau, sei vergnügt! Und hier befindet sich auch die geheime Schaltzentrale des Hauses, eine riesige hölzerne Telefonanlage, die die Weserstraße 84 mit der weiten Welt und das Hochparterre mit den beiden oberen Stockwerken verbindet.
Bringt das neue Haus dem Jungen die Großmutter räumlich näher, so entfernt es den Vater von ihm. Den bewunderten und ein wenig gefürchteten Vater. Noch bis vor kurzem war der entweder in der Schule oder in Feld und Flur verschwunden, oder er war zum Greifen nah gewesen. Da konnte das Kind dann aufwachen, und das Erste, was es im Dämmerlicht sah, war ein muskulöser Oberkörper, der sich über den Waschtisch zum Spiegel beugte. Mit spitzen Fingern, alspackte er eine zerbrechliche Christbaumkugel aus, entfernte der Vater im Schein zweier Hängekerzen die Bartbinde von der Oberlippe; und wenn er befriedigt feststellte, dass die Spitzen sich immer noch kaisermäßig nach oben reckten, dann stimmte er »Jung Siegfried war ein stolzer Knab« an. Nun aber schlafen die Eltern am anderen Ende einer geräumigen Beletage, und nach dem Dienst verschwindet der Vater bis tief in die Nacht zum Studieren in seine Gefilde. Will Martin ihn dort besuchen, muss er die Hallentreppe hoch zur Galerie laufen und an einer schweren Tür klopfen.
Die Räume, die hinter dieser Tür liegen, werden das väterliche Reich genannt, und es ist schwer zu entscheiden, ob das nun bürgerliche Ironie ist oder eine ernst gemeinte Übertreibung. Jedenfalls steht fest, dass diese Räume nicht so gastfrei sind wie die der Großmutter. Weniger reizvoll sind sie deshalb nicht. Nur öffnen sie sich erst, wenn der Vater den Augenblick für gekommen hält. Dann aber nimmt er sich Zeit. Er wählt aus den vielen Büchern diejenigen aus, die auch dem Kind schon etwas sagen
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