Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

der Anthropologieprofessor aus Münster, dieser ehemalige Kollege ihres Mannes, schwer angetan. Was der für Leute kannte! Und keine Spur von Überheblichkeit, ganz reizend war er zu ihr, das kannte sie auch anders, von ihrer eigenen Sippe aus der Weserstraße zum Beispiel. Zwar ist Schultz sieben Jahre älter als Friedrich, doch glaubt man der historischen Generationsforschung, kann bei den deutschen Geburtsjahrgängen um 1900 ein solcher Unterschied vernachlässigt werden – solange er nicht einhergeht mit dem Unterschied zwischen Kriegseinsatz und Kriegsjugend. Doch im Ersten Weltkrieg hatte keiner von beiden gekämpft. Wohl aber hatte beider Selbstwertgefühl unter der Zerschlagung der kaiserlichen Imperien gelitten. Vom Verlust all der Väter ganz zu schweigen. Auch gesellschaftlich treffen sich der etwas aus der Bahn geratene Spross einer alten hanseatischen Familie und der aufstiegswillige Forscher aus Niederösterreich auf Augenhöhe.
    Der eine scheint zu verkörpern, was der andere beweisen will.
    Im November 1942 ist Friedrich Leo auf dem Gipfel angekommen. Er ist Abteilungsleiter in einem kriegswichtigen Amt, und in der elitärsten Organisation des Dritten Reichsmuss er sich vor niemandem verstecken. Es ist, wie üblich in der SS, der deutsche Schicksalstag, an dem er in den Rang eines Majors befördert wird: der 9. November. Fünf Tage später wird mein Vater geboren. In Burgdorf bei Hannover fällt aus grauem Himmel schmelzender Schlackerschnee. Man hätte darin durchaus ein Omen auf unmittelbar bevorstehende Ereignisse erkennen können. Doch die Zeichen des Lebens sind stärker. Als wolle die Vorsehung noch ein letztes Mal alle Zweifel an ihrer Güte ausräumen, lässt sie den Stationsvorsteher des Anhalter Bahnhofs am Morgen des 14. November 1942 einen Reisenden ausrufen, der gerade im Begriff ist, seinem Chef nach Prag zu folgen.
    »Der Sturmbannführer Friedrich Leo bitte dringend zur Bahnhofsauskunft! Gute Nachrichten von zuhause! Sein Zug wird warten.«
    Der Rest ist schnell erzählt. Nach Stalingrad besinnt man sich auch in der SS auf das Kerngeschäft. Innerhalb eines Jahres wird das Personal der kämpfenden Einheiten fast verdoppelt. Friedrichs Wechsel zur Waffen-SS fällt da 1943 überhaupt nicht aus dem Rahmen. Abgesehen von zivilen Sondereinsätzen, zu denen Berlin ihn immer wieder anfordert, bleibt er nun bis zum Kriegsende Soldat. Aber er muss nicht mehr an die Front. Dafür ist er dann doch zu gut. Denn worin unterschied sich die Waffen-SS von der Wehrmacht? Im Kriegszielwissen, in der Endsiegkompetenz. Um zu sogenannten politischen Soldaten zu werden, musste man die Rekruten der SS deshalb doppelt ausbilden. An der Waffe und am Kopf. Und da hatte Friedrichs eigene Lehrzeit bei der Waffen-SS ergeben, dass sich im Truppendienst zwar das Fehlen von Ostfronteindrücken nachteilig bemerkbar machte. Aber dafür volle Punktzahl – 42 von 42 – im Fach WeltanschaulicheSchulung. L. ist eine Persönlichkeit ausgeprägter Führereigenschaften, von nationalsozialistischem Ideengut durchdrungen , heißt es im Abschlusszeugnis. Pädagogischer Eros, eloquent, energisch, im politischen Glauben unangefochten: Typen wie er wurden zu Weltanschauungspredigern für die Elitesoldaten des Dritten Reichs. Und das funktionierte. Bei Interviews mit Kriegsgefangenen stellten amerikanische Geheimdienstbeamte fest, dass, gegenüber einem harten Kern von gut 10 Prozent bei Wehrmachtsangehörigen, die Einheiten der Waffen-SS oft komplett aus überzeugten Nationalsozialisten bestanden. Gute Arbeit, Großväter.
    Und dann: Schnitt. Block 8, Civilian Internment Camp No. 6. Flucht. Heide. Westbindung. 35 Jahre Sterben in Vegesack.

5. KAPITEL
IM MASTKORB
    Häuser sind Sachen. Über Häuser verfügt man. Wer mit ihnen Geld verdient, nennt sie gerne »Objekte«. Häuser werden entworfen, finanziert und gebaut, bewohnt, gepflegt und beliehen, vernachlässigt, vererbt und verkauft. Normalerweise herrschen Menschen über Häuser. Manchmal ist es aber auch umgekehrt. Es kommt vor, dass ein Haus sich eines Menschen bemächtigt, auch wenn die Sprache sich dem nur widerwillig beugt. Im Fall des kleinen Martin muss man es aber wohl so sagen: Kaum sechs Jahre alt, hält ein hoch über dem Wasser gelegenes Haus mit Turm Einzug in sein Leben. Eine mächtige Vertikale, die ihn so lange anweisen wird, den Kopf zu heben und zu senken, bis sein natürlicher Ort die Mitte zwischen Oben und Unten geworden ist. Wie eine zweite