Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
gelben in den Abteilenund die beiden roten am Heck des Postwagens, deren Helligkeit mit der Frequenz des Räderratterns an- und abschwoll, größeren Zauber ausübten, wenn sie alleine ihre Runden drehten und dabei immer nur den Teil des Wohnzimmers erleuchteten, der gerade von ihnen berührt wurde, mal das Bücherregal, mal den Mahagonitisch, mal die geschmückten Zweige des Tannenbaums – oder wenn sie als die geringere, aber aktivere von zwei schwachen Lichtquellen durch den trägen Schein der Christbaumkerzen tauchten, so dass die umherstehenden Dinge wie ein stummes Publikum wirkten: Das war eine Frage, die ich nie entscheiden konnte. So oder so stieg mir der süßliche Schornsteindampf im Halbdunkel hundertfach stärker in die Nase als am Tag.
Meinem Vater waren Dampf und Lichterglanz ziemlich egal. Im Wohnzimmer genauso wie im Fernsehen oder gar in der Disko. Er ist einfach nicht der sinnliche Typ. Was ihn an der LGB faszinierte, das war die Wirklichkeit des Unsichtbaren. Und damit sind nicht die Kabel gemeint, die zu verbergen für ihn nur ein Stück des handwerklichen Anstands war, ohne den kein Ingenieur etwas taugt. Niemand sieht schließlich gerne Kabel. Aber manche Menschen, und zu denen gehört mein Vater, sehen gerne Schaltpläne. Nur Schaltpläne verraten die Wahrheit über den Strom. Zeigen sie doch, dass er kein Ding mit Ort und Namen ist, sondern ein unbewegter Beweger, eine Macht von solcher Unbestimmtheit, dass sie ebenso gigantische Kräfte verursachen kann wie Bewegungen von filigraner Präzision. Dem Kundigen enthüllt der Schaltplan eine Idee, eine technische Lösung, durch die sich ein plumper Druck in ein vielgliedriges Schema von Zuleitungen und Abflüssen, Verstärkungen und Unterbrechungen, Parallelen und Gegenläufigkeiten verwandelt. Wer,statt auf Dinge zu glotzen, Pläne zu lesen versteht, der erkennt, noch bevor das erste Auto aus der Kurve fliegt, dass Carrerabahnen etwas furchtbar Stumpfsinniges sind: ein Kreis, zwei Drehwiderstände, fertig. Bei einer elektrischen Eisenbahn hingegen erkennt er sofort den Geist ihres Erbauers, er sieht, ob es sich um einen Banausen handelt, der heimlich von Carrerabahnen träumt, oder um einen Meister, dem man auch die Elektrifizierung des ersten Krankenhauses auf dem Mond anvertrauen könnte.
Mein Vater verstand sich auf sein Fach, und er liebte zwar nicht immer seinen Job, aber ganz sicher seinen Beruf. Der Weihnachtsurlaub begann für ihn am frühen Nachmittag des 23. Dezember. Bevor wir nach München umzogen, trennte ihn dann noch eine halbe Tagesreise von seiner Familie. Aber was tat er, wenn er spätabends zuhause angekommen war? Fiel er ins Bett oder stürzte er sich auf seine Frau, die er eine Woche nicht gesehen hatte? Nein. Er verschwand hinter dem großen Laken, das mir und meiner Schwester schon seit dem Morgen den Blick ins Wohnzimmer versperrte. Und was machte er dort? Er holte aus seiner Reisetasche mehrere Schachteln und Kartons, deren Etikett die Herkunft aus einem Spielzeugladen in der Theatinerstraße verriet, stellte sie nach Funktion und Größe geordnet vor sich auf den Tisch hin und sah abwechselnd von diesem kleinen zu dem großen Stapel aus grünroten Kisten, die meine Mutter auf seine Bitte bereits am Nachmittag vom Dachboden geholt hatte. Dann zog er eine Klarsichthülle aus seinem Arbeitskoffer und ging ein weiteres Mal die Lösung durch, die in den letzten Wochen Gestalt angenommen hatte, zunächst in seinem Kopf, und dann, in Form feingezogener Linien und Symbole, auf dem Papier. Und dann machte er sich bis zum Morgengrauen die Knie wund.
In jedem Jahr wurde der Bestand der LGB erweitert. Mal wuchs die Länge der Strecke, mal die Größe des Fuhrparks; doch die unvergesslichsten Feste feierten wir, wenn eine neue Idee hinzukam. Die Wendeschleife etwa oder das abschaltbare Abstellgleis oder die vom Hauptstrang unabhängige Kreuzungsstrecke. Die größte Überraschung aber war der zweite Stromkreis. Denn plötzlich gab es da noch einen Trafo. Und auch an dieser Veränderung zeigte sich, auf wie unterschiedliche Weise zwei Menschen das Gleiche lieben können. Für meinen Vater öffnete sich mit dem zweiten Trafo ein technischer Horizont. Die oft komplizierten Rangieraufgaben, die er mir so gerne stellte und denen ich mich aus einem diffusen Gefühl der Dankbarkeit nicht entziehen wollte, konnten nun unabhängig vom sonstigen Fahrbetrieb gelöst werden. Bisher hatte die Dampflok auf einem abschaltbaren Abstellgleis
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