Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Training für bessere Zeiten.
Man kann Friedrichs Situation 1932 düster zeichnen. Er hat alle Erwartungen seiner Familie enttäuscht. Auch von den eigenen Hoffnungen, mit denen er in sein Leben aufgebrochen ist, hat sich keine erfüllt. Er hat die Schule abgebrochen. In dem erlernten Beruf hat er keine Zukunft. Er ist nicht in der Lage, seine langjährige Verlobte zu heiraten und eine Familie zu gründen. Man kann die Medaille aber auch umdrehen. Dann sieht man, dass erst im Verfehlen aller Ziele dieses Leben einen Horizont gewinnt. Stück für Stück fügen sich die Stationen seiner Flucht und die Fragmente seiner Biographie zu einer schlüssigen Wette auf die Zukunft zusammen. Erwill ein deutscher Siedler werden, ein Bauer neuen Schlags, der mit völkischem Bewusstsein über den Schollenrand hinaussieht und am Horizont die Gestalt eines jungen Deutschland erkennt. Trotz des schwärmerischen Überhangs ist das ein klares Ziel. Nur lässt es sich in den bestehenden Verhältnissen nicht verwirklichen. Seit er das verstanden hat, führt Friedrich ein politisches Leben.
Unter den deutschen Parteien wird die völkische Idee nur von der NSDAP vertreten. Dass Friedrich trotzdem zunächst weder ihr noch einer ihrer Organisationen beitritt, ist durchaus nicht verwunderlich. Anders als den etablierten Parteien fehlt ihr jegliche Milieuanbindung. Solange sie noch nicht Staatspartei ist, gibt es wenige Gründe, sich ihr anzuschließen. Bis 1933 führt der Weg zu den Nazis in der Regel über die SA. Bei ihr gibt es etwas zu tun, sie nimmt sich auf allen Ebenen des politischen Kampfes an, in Zeiten des gesellschaftlichen Zerfalls gewinnt hier die Gemeinschaft der »Bewegung« erfahrbare Gestalt. Aber für gehobene Bürgerkinder, auch für rebellische, ist das oft nichts. Man macht sich nicht ohne Not gemein. Und Friedrich ist ja bereits in der Jugendbewegung organisiert. So findet er den Weg zu den Nazis auch von dort. Schon bevor er 1933 seinen Pfadfinderzug geschlossen in die Hitlerjugend überführt, hat er sich um 1930 dem Bund der Artamanen angeschlossen. Die haben sich der Siedlung nach völkischen Gesichtspunkten verschrieben, was praktisch Verschiedenes bedeuten kann: die Vertreibung und Ersetzung polnischer Wanderarbeiter von den ostelbischen Gütern, Volkstumsarbeit im dänischen Grenzland, das Anlegen von Mustersiedlungen oder die Sensibilisierung der traditionsverhafteten Bauern für die Sache der Nation. In diesem Kreis treffen sich um 1927 auch Heinrich Himmlerund Walther Darré, zwei Stadtflüchtlinge mit Sympathien für die Hitler-Bewegung. Als sie beschließen, aus ihren agrarmystizistischen Neigungen etwas mehr zu machen, entsteht hier das Programm eines Eliteordens aus erdverhafteten Musterdeutschen. Hier wird das Ideal der blutsreinen deutschen Bauernsippe zu einer nationalsozialistischen Kernidee. Hier fällt Hitlers Gerede vom »Lebensraum im Osten« auf fruchtbaren Boden, hier werden die Keime für eine großgermanische Siedlungspolitik gelegt. Und dieses Milieu ist es auch, in dem Friedrichs jugendliche Entschlossenheit einen weltanschaulichen Schliff bekommt. Siedlungssehnsucht, Blutsbewusstsein und Bauernideal sind nun zu einem Programm verwoben, in dem das Gelingen des eigenen Lebens unter dem Stern der deutschen Außenpolitik steht.
Adolf Hitler, der im Januar 1933 erstmals eine Regierung leitet und wenige Jahre später einer der mächtigsten Männer der Weltgeschichte sein wird, bleibt für die meisten Deutschen eine ferne Lichtgestalt, eine massenmediale Epiphanie, deren seltsame Erscheinung über sich selbst hinausweist – für die einen auf etwas Großes, für die anderen auf ein Grauen. Die wirkliche Diktatur hat keine Aura. Sie hat tausend Gesichter und fast genauso viele Uniformen. Überall gibt es nun starke Männer, die Fakten schaffen. Kein Ort der Gesellschaft, an dem nicht alte Netze gekappt und neue ausgelegt, alte Konkurrenzen erledigt und neue gezüchtet, alte Probleme gelöst und neue geschaffen werden. Für Friedrich Leo setzt die Diktatur ein besonders freundliches Gesicht auf: das von Walther Darré.
Jahrtausendelang war die Landwirtschaft zwischen Alpen und Marsch ein unüberschaubares Geflecht aus lokalen Wirtschaftsweisen, Machtverhältnissen und Gewohnheitsrechten– doch im Sommer 1933 haben plötzlich auch die deutschen Bauern einen starken Mann. Mehr als die Hälfte der vielen Ämter und Positionen, die Darré in seiner Person vereint, hat er selbst erfunden. Als Leiter
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