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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Selbstauskünfte meines Vaters kamen mir jedenfalls rätselhaft vor. Erklär es doch einfacher, dachte ich. Aber es war nicht seine Schuld. Die Sache war nun mal schwer verständlich – zumal bei meinem angeborenen Mangel an technischer Vorstellungskraft. Das wurde mir klar, als ich im Brockhaus, der mich in seiner verlässlichen Allwissenheit immerhin schon über die Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane und über alle Deutschen Meister seit Gründung der Bundesliga aufgeklärt hatte, das Wort »Messwandler« nachschlug. Er kann halt nicht gut erklären, dachte ich, aber die Leute vom Lexikon können das – und las: Transformatoren kleiner Leistung, die den bequemen Anschluss üblicher Messgeräte, Regler, Schalter u. a. ermöglichen und diese Geräte vor Überlastung schützen (VDE 0414). Stromwandler übersetzen den Strom (Primärströme bis 100 kA) betrags- und phasengetreu auf 1 A oder 5 A. Sie sind sekundär über dieMessgeräte praktisch kurzgeschlossen. Spannungswandler arbeiten im Leerlauf. Übersetzung z. B. von 400 kV auf 100 V, Frequenzbereich i. a. 45 bis 60 Hz. Ich verstand nur Bahnhof. Und Transformator natürlich. Ein »Trafo«, das wusste schließlich jeder, war ein kleiner roter Kasten, von dem an der einen Seite ein normales graues Stromkabel mit Schukostecker zur Dose führte, von der anderen zwei dünne Kabel, eines gelb, eines grün, die man durch Schraubklemmen an den Schienensträngen befestigen musste. Das Herzstück eines Trafos war der oblatengroße Drehknopf, auf dessen Zustandsveränderungen hin eine Lokomotive sich bewegte. Und dieser Knopf folgte den Bewegungen meiner Hand. Während der mit vielen Waggons behängte Zug in einem sich wellenartig ausbreitenden Ruck seine Trägheit überwand, für ein oder zwei Sekunden vielleicht, flirrte die Luft von einem Geräusch, das nicht unbedingt schöner, aber viel zarter und geheimnisvoller war als der harte Rhythmus, mit dem die Räder kurz darauf über die Schienennähte ratterten: ein leises Summen aus dem Innern des Kastens, das selbst dem Unkundigsten verriet, dass Strom nicht nur die wunderbarsten Dinge bewirkt, sondern auch unzweifelhaft »da« ist.
    Doch das Tollste war nicht der Trafo. Das Tollste waren die Schaltpulte. Jedes Pult hatte einen Klappdeckel, den man im stumpfen Winkel aufstellen konnte; unter jedem Deckel befanden sich vier längliche Kippschalter; und jeder dieser Schalter ließ sich am vorderen wie am hinteren Ende nach unten drücken, von wo er durch einen Federmechanismus in die Ausgangsposition zurücksprang. Während der kurzen Berührung wurde, so viel hatte ich immerhin begriffen, in dem Kasten ein Kontakt überbrückt, was dem Strom ermöglichte, in der »elektromagnetischen Spule« eines »Relais« eine»Induktion« zu erzeugen. Was immer das bedeutete, es führte dazu, dass eine Weiche, ein Signal oder ein Entkoppler in die andere von zwei möglichen Positionen sprang. Es war die Mischung aus Dummheit und Macht, die ich an diesem Spielzeug liebte: die Illusion, mein kaum merkliches Fingerspiel sei es, das die raumfüllende Dynamik aus Bewegungen, Lichtern und Geräuschen bewirkte. Im Grunde war unsere Welt ja voll von solchem Zauber. Man drückte einen Knopf, und schon begann in der anderen Zimmerecke die Sportschau. Oder es wurde hell. Oder laut. Aber meine elektrische Eisenbahn war noch viel mehr.
    Sie war ein Stück deutscher Weihnacht.
    Einem unausgesprochenen Gebot zufolge durfte die LGB nicht länger stehen als der Christbaum. Das allein hätte genügt, um diesem kleinen Energiewandelsystem jedes Air des Technischen auszutreiben; doch genau wie ein Filmprojektor diente es ohnehin keinem anderen Zweck als der Erzeugung von Schönheit. Zumindest empfand ich das so. Für diesen Dienst musste allerdings alles Technische verborgen werden, sofern es nicht schon, wie etwa die flache Zeile aus Trafo und Schaltpulten, in seiner Zweckmäßigkeit schön war. Das betraf besonders die vielen Signal- und Weichenkabel, die ein undurchdringliches Gestrüpp gebildet hätten, wären sie nicht sorgfältig zu Strängen gebündelt und unter den Schienen versteckt worden. War das erledigt, entstand um die Bahn herum eine Kulturlandschaft aus Häusern, Menschen und Fahrzeugen. Schließlich mussten die Sonne untergegangen, alle Lampen ausgeschaltet und der kleine schwarze Schornstein mit Dampföl gefüllt sein. Dann konnte das Schauspiel beginnen. Ob die flackernden Lichter, die weißen an der Vorderseite der Lok, die

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