Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
begleitete. Das Gebäude war in jeder Hinsicht überwältigend, fest wie eine Burg und unfassbar viel größer als der barackenartige Bau meiner Celler Grundschule. Mit seinem hohen Turm und den langen, sanft geschwungenen Fluren kam es mir mächtig erhaben vor. Auch die Schüler schienen einem anderen Menschenschlag anzugehören, nicht nur die Riesen mit Bärten und Brüsten, die so zahlreich zusammenstanden, dass es unmöglich Lehrer sein konnten, sondern auch mein zukünftiger Freund Christian Sandmann. Er wartete mit seiner Mutter schon vor dem verschlossenen Klassenzimmer. Dass esaußer mir noch ein weiteres Kind gab, dessen Eltern immer viel zu früh kamen, weil sie »Notfallzeit« einplanten, beruhigte mich zwar. Doch damit hatten sich die Gemeinsamkeiten schon erledigt. Der Anblick von Frau Sandmann war ein Schock. Nicht nur überragte sie meinen Vater um einen ganzen Kopf, der Kussmund mit Zigarette, den sie als Brosche trug, verwies auch auf Dimensionen der Existenz, von denen sein Strickschlips wohl nicht mal zu träumen wagte. Der erste Eindruck sollte sich bald bestätigten. Sandmanns bewohnten ein Haus, das anscheinend ohne einen einzigen Stein gebaut worden war. Nur Stahl und Glas. Zur Vanillesoße aß man dort nicht Schokoladenpudding, sondern ein undefinierbares Hauptgericht, in dem auch Nudeln vorkamen. In der Küche hingen alte Reklameschilder aus Blech und im Wohnzimmer drei mit fast leerem Filzstift gemalte Amerikaflaggen, über denen in großen Druckbuchstaben der Name JASPER JOHNS stand. Als ich Frau Sandmann fragte, ob sie das Plakat gekauft hätten, weil Christians kleiner Bruder Jasper hieß, verfiel sie in ihr unverwechselbares, warmherzig-rauhes Frausandmannlachen. Es sollte wohl nein heißen. Obwohl ich nichts von alldem schön fand, hatte ich ein klares Gefühl für die souveräne Überlegenheit dieser Ästhetik. Aber ich will nicht übertreiben. Meine Eltern waren eher kleingewachsen, sie besaßen keine Kussmundbroschen und hielten Vanillesoße für eine Nachtischzutat, alles halb so wild, nur eben etwas peinlich.
Die Eltern meines Vaters dagegen hatten ein echtes Imageproblem. Obwohl er davon eher belustigt als verstört erzählte, konnte ich seine Scham fühlen, als wäre sie Teil meiner eigenen Erinnerung.
Dass sie anders waren, das merkte man doch schon an derLage ihres Häuschens und daran, dass es gar nicht ihnen gehörte. Wollte denn, wer mitten in der Heide zur Miete wohnte, überhaupt dazugehören? Und warum bitte hatte Trina einen Städter geheiratet und war dann zurückgekehrt? Warum ging der Mann nicht in die Kirche? Warum ließ er sich nie im Dorfkrug blicken? Warum hatte man ihn noch auf keiner Hochzeit tanzen sehen? Man wusste es natürlich, aber trotzdem. Man würde ja wohl mal fragen dürfen. Hielt er sich etwa immer noch für einen Herrn, obwohl seinem Spuk längst ein Ende gemacht worden war? Lehrte ihn denn die Waldarbeit keine Demut? War denn seine Frau nicht eigentlich eine von ihnen? Aber die hielt sich ja inzwischen auch für was Besseres. Und machte sich doch nur den Rücken krumm, an der Nähmaschine, Nacht für Nacht. Arme Trina, wat’n seuten Deern. Hätte jeden von ihnen haben können, und wo hockte sie jetzt mit ihren Bälgern? Hinterm Wald, nicht weit vom Lagerplatz der Zigeuner.
Durch diesen Wald stapfte der gerade achtjährige M42 am 4. Dezember 1950, einem Montag, und war voll schwerer Gedanken. Nicht dass er sich vor den Zigeunerjungen fürchtete; das tat er zwar, seit sie ihn im letzten Sommer »überfallen« und ihm dabei die Blechkanne aus der Hand geschlagen hatten, worauf die frische Milch in den Sand gesickert war. Aber gerade hatten sie sich mal wieder davongemacht. Nein, er fürchtete sich vor seiner Lehrerin. Und das war im Grunde viel schlimmer. Denn er liebte und verehrte sie fast so sehr wie die Mutter. Was er fürchtete, das war die erste Frage der neuen Schulwoche. Keine Wissensfrage, auch keine Rechenaufgabe, sondern ausgerechnet die einzige Frage, die den Bauernkindern ihre Mundfaulheit austrieb. Was habt ihr denn am Wochenende gemacht? Niemals reckten sich mehr Armein die Höhe, nie wurde freimütiger geredet, nie verging die Schulzeit schneller als am Montag zu Beginn der ersten Stunde. Und normalerweise bereiteten auch M42 diese Minuten Freude, etwa wenn er, dessen Eltern keine Kühe, keinen Traktor und keine Schmiede besaßen, erzählen konnte, dass Onkel Heinz mit dem großen Benz aus Vegesack gekommen war und er während der
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