Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
davon zu verankern, wie Weihnachten sein sollte. Am Rande des Unerträglichen spannend sollte es sein; sich festlicher anfühlen als jedes andere Fest, Hochzeiten und Taufen eingeschlossen; und eine echte, auch vom Tageslicht nicht zu erschütternde Fülle sollte es bieten, die für lange Zeit keine neuen Wünsche aufkommen ließ.
Natürlich war der kultische Ernst, mit dem mein Großvater Weihnachten anging, ein bürgerliches Erbe. Umso bemerkenswerter, dass sich in seine Festgestaltung Elemente hineinmischten, die fraglos aus dem Dritten Reich stammten. Auch in der SS konnte man ja Weihnachten. Es war schließlich eines der wenigen traditionellen Feste, die sich problemlos ins Völkische umdeuten ließen. Ostern war zu eindeutig christlich geprägt, als dass man es ohne Gewalt zur »Tagundnachtgleiche« erklären konnte; Pfingsten ein ohnehin hoffnungsloser Fall; Karneval der entlarvende Beweis, dass man mit lebendiger Volkskultur in Wahrheit nichts anfangen konnte; und Geburtstage zu Sippenerhaltungsfeiern umzudekorieren wirkte auch ziemlich verkrampft. Aber Weihnachten! War das nicht immer schon das Fest des Nordens, der verschneiten Nadelwälder, der brechenden Dunkelheit, der familiären Einkehr, der Sehnsucht nach Wiedergeburt gewesen?
Nur bei der Adventszeit mussten die Nazis ein wenig nachhelfen. Anders als dem leuchtenden Baum, der ja etwas zweifellos Gutes zum Ausdruck brachte, mochte der eine an Jesu Geburt denken, der andere an den Wintertod, fehlte dem Adventskranz diese schöne Vieldeutigkeit. In der Vorweihnachtszeitmusste man sich entscheiden. Nicht dem Gefühl nach, das konnte beidem gelten, aber symbolisch. Was erwartete man? Den Heiland oder die Sonne? Die vier Kerzen enthielten ja unweigerlich das Wesen der Zeit. Sie symbolisierten entweder ein irreversibles Heilsgeschehen, das jeden Moment der Geschichte ins Verhältnis zu den Stationen der Offenbarung setzt. Dann geschah etwas vor oder nach der Sintflut, vor oder nach der Stiftung des Heiligen Bundes, vor oder nach der Menschwerdung Gottes. Oder sie symbolisierten eine mythische Zeitordnung, die nur der ewigen Wiederkehr der Naturkräfte und des Lebens göttlichen Rang zuerkennt. War Weihnachten die Erinnerung an ein Ereignis oder, wie es die Katholiken sahen, das Mysterium seiner Dauer, dann gab es kein Zurück. Dann war plötzlich Licht in der Welt, wo vorher keines war. Dann wurde es mit der wachsenden Nähe dieses Ereignisses immer heller. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier. War Weihnachten aber der Moment, in dem der Jahreszyklus sich vollendete und das kosmische Rad in eine weitere Runde ohne Zahl aufbrach, dann bildete der Adventskranz nur ab, was in der Natur tatsächlich geschah. Dann wurde es in den Wochen vor Weihnachten immer dunkler.
Erst vier, dann drei, dann zwei, dann eins.
Ich habe mich oft gefragt, warum meinem Vater die Schule so wichtig war. Warum er, anders als die Stars im Fußball-Magazin, auf die Frage nach dem glücklichsten Moment seines Lebens nicht antwortete: als mein Sohn geboren wurde. Sondern: als ich die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium bestanden hatte. Ich verstand es erst, als ich mich in ihm wiedererkannte – und dabei einen Unterschied bemerkte. Auch ich ging schließlich gerne zur Schule. Auch ich war ein Streber.Was uns trennte, war nicht die Art, sondern der Grad unseres Einverständnisses. Wir schätzten beide die Schule als eine Institution, die frei machte von zuhause, weil in ihr andere, durchschaubarere Kriterien der Anerkennung galten. Aber wir wussten auch, dass diese Freiheit gefährdet war, wenn man sich vor den Mitschülern für seine Familie schämen musste. Nun gab es für mich eigentlich kaum Grund zur Scham. Bis zum Umzug nach München sowieso nicht und danach höchstens, weil ich von Natur aus dazu neigte, mich mit dem Augen meiner Umwelt zu betrachten. Und diese Augen mochten feststellen, dass meine Eltern ein klein wenig weniger lässig und elegant waren als die Eltern meiner neuen Großstadtfreunde. Kein Grund zur Panik, aber doch peinlich genug, um in mir ein Mitgefühl mit all jenen Kindern zu wecken, deren Eltern so merkwürdig waren, dass man gerne mal auf dem Pausenhof darüber sprach. Mit Kindern wie meinem Vater.
Dass München-Schwabing ein anderes Pflaster war als der Außenbezirk eines niedersächsischen Verwaltungszentrums, wurde mir klar, als mein Vater mich am 14. September 1982 zu meinem ersten Schultag ins Alte Realgymnasium
Weitere Kostenlose Bücher