Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
stehen müssen, solange ich mit der Rangierlok in nervösen Manövern die Reihenfolge der Waggons veränderte. Nun konnte sie weiter ihre Bahnen ziehen. Dass sich hinter der Einheit des Modells tatsächlich eine Zweiheit befand, die den Übertritt vom einen in den anderen Kreis nur kraft mechanischer Trägheit erlaubte – der Uneingeweihte bemerkte nicht, dass die Loks über eine bestimmte Weiche eher stolperten als glitten –, das ergötzte meinen Vater. Mich ergötzte anderes. Zwei Züge etwa, die in unterschiedlicher Geschwindigkeit eng aneinander vorbeifahren konnten. Oder das Schienenrattern, das nun nicht mehr monoton klang, sondern wie ein Rhythmusinstrument, tak-tak-tak-tak-tak auf rabumm, rabumm, rabumm. Oder eine rasende Lok, die an einem Kreuzungspunkt mit einem langen Güterzug zusammenzustoßen drohte und erst im letzten Augenblick durch ein Signal daran gehindert wurde.
Angeblich zerfällt die Weihnachtszeit in drei Phasen ansteigenden Übels: zunehmenden Stress vor dem Fest, zunehmende häusliche Gewalt während des Festes, zunehmende Scheidungsrate nach dem Fest. Dazu kann ich nur sagen, dass bei uns Weihnachten nicht gestritten wurde. Dass meine Eltern sich im September scheiden ließen. Und dass Stress höchstens mein Vater hatte, wenn er unter größter Zeitnot unbemerkt die Eisenbahn aufbaute, er dazu aber mit einer Erkenntnis aus dem Managerseminar gesagt hätte, es gebe eben »Eu-« und »Dis-«, also guten und schlechten Stress, und der in der Nacht vor Heiligabend sei besser als der beste Stress, den er in seinem Job je haben würde.
Weihnachten ist wunderbar, man muss es nur können. Und mein Vater konnte es. Von wem aber lernt man Weihnachten? Von seinen Eltern natürlich.
Friedrich konnte seinen Enkeln nicht viel bieten, das sagte ich schon. Doch auch seine Söhne hatten wohl erkannt, dass ihre Onkel, der Werftingenieur und Mercedesfahrer Heinz auf die eine, der geheimnisvolle, unnahbare Martin auf die andere Weise, ja auf seine Weise selbst der immer zurückhaltende und freundliche Jan, besser zum Vorbild taugten als der im Wald wütende Vater. Doch eines immerhin tat er sehr geschickt. Er verstand es, seinen Mangel zu bewirtschaften. So wie die Kinder ihm die Geschichten vom Krieg immer und immer wieder aus der Nase ziehen mussten, weil er die Proben seines magischen Erzähltalents bis aufs Äußerste verknappte, so wie er die wenigen Schokoladeneier, die er sich leisten konnte, so raffiniert versteckte, dass die Suche nach ihnen ein viel größeres Erlebnis war als der Verzehr, so war der Tag der zum Äußersten gespannten Erwartung: so warHeiligabend sein Fest. In der Heide bei Ahausen jedenfalls war der 24. Dezember um 1950 der mit Abstand längste Tag des Jahres. Wie oft ließ mein Vater mich spüren, dass unser Warten auf die Bescherung doch lächerlich sei im Vergleich zu der Folter, die er selbst und seine Geschwister hatten erleiden müssen.
Wenn am frühen Nachmittag die Bockwürste mit Kartoffelsalat gegessen waren, mochte es für mich und meine Schwester noch ein paar Stunden dauern, bis das Fest begann. Für Friedrichs Kinder dauerte es dann noch eine Ewigkeit. Erst bei Sonnenuntergang machte sich die Mutter mit ihren sechs Kindern auf den langen Weg, der durch die Heide und den Wald zur Dorfkirche führte. Und der Pastor nahm keine Rücksicht auf kindliche Ungeduld, dem hohen Anlass gemäß dauerte der Gottesdienst sogar noch länger als sonst. Dann, nachdem die vollzählig versammelte Gemeinde das Kirchlein unter inbrünstigem Absingen von »O du Fröhliche« noch einmal hatte erbeben lassen, kam wieder der Gang durch Wald und Heide. Und dann? Dann ließ der Vater sie warten. Eine Stunde, manchmal zwei. Und dann? Dann rief ein Glöckchen in den Himmel. Und im Himmel? Da wurde bekanntlich viel musiziert. Und nach der Musik? Da waren sie so platt vom Warten und so erschlagen von dessen Ende, dass der Anblick ein paar neuer Buntstifte und eines Marzipanbrots im Kerzenschein ihnen vorkam wie die Pforte zu den Ewigen Jagdgründen.
Ein einziges Mal hielt die Wirklichkeit des ersten Weihnachtstages dem schönen Schein des Heiligen Abends stand. Das war, als Friedrich seinen Söhnen eine Märklinbahn schenkte. Sie bestand aus nicht besonders vielen Teilen, war irgendwo gebraucht erstanden worden, und schon am zweitenWeihnachtstag war sie kaputt (ohne dass der Vater sie hätte reparieren können). Doch diese zwei Tage genügten, um in einem seiner Söhne für immer eine Idee
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