Flut
Hand.
9.
Er steht oben an der Treppe und wartet auf seine Mutter. Eigentlich hat er mit ihrem schwarzen Parati gerechnet, aber das Auto, das am Ende der Straße um die Kurve kommt, ist ein alter champagnerfarbener Honda Civic, den sie schräg auf dem Parkplatz abstellt. Es ist das erste Mal seit der Beerdigung, dass er seine Mutter sieht. Er umarmt sie. Sie trägt rote Handschuhe und eine beige Wolljacke. Sie wirkt kleiner und dünner, als er sie in Erinnerung hat. Ursprünglich hatte er beschlossen, ihr von seinem Gespräch mit dem Vater vor dessen Selbstmord zu erzählen, aber als sie vor ein paar Minuten anrief, um Bescheid zu sagen, dass sie gerade in die Stadt einfahre und eine Wegbeschreibung zu seiner Wohnung brauchte, war er schon nicht mehr so überzeugt, und als er dann auflegte, wusste er bereits, dass er es niemals schaffen würde. Sie würde ihm bis ans Ende ihres Lebens Vorwürfe machen, nicht sofort die Familie verständigt oder überhaupt irgendetwas unternommen zu haben, um die Tragödie zu verhindern. Er würde keinem von ihnen davon erzählen können. Der einzige Mensch, der ihn verstehen würde, war direkt involviert und hatte sich von unterhalb des Kinns eine Kugel in den Kopf gejagt und dabei mit Bedacht den Winkel gewählt, der den größtmöglichen Schaden anrichten würde. Jetzt tritt sie einen halben Schritt zurück, ohne dabei die Hände von seinen Hüften zu nehmen, schaut ihm in die Augen, lässt sich anschauen und lächelt. Im Grunde sehen sie sich nicht sehr ähnlich, aber einem nahen Verwandten gegenüberzustehen ist ein bisschen, wie in den Spiegel zu gucken, und wahrscheinlich ist auch ein Stück von ihm in den dunklen, wässrigen Augen seiner Mutter. Vielleicht ist es eher eine Frage des Glaubens, aber ein bisschen erkennt er sich in ihnen wieder. Und sie sieht in ihm wahrscheinlich ihren Exmann. Er weiß, dass sie sich ihm gegenüber relativ jung und sicher fühlt, zumal er ja nicht wissen kann, inwiefern sie sich verändert hat. Erst als sich der Kühler des Wagens abschaltet, merken sie, dass er die ganze Zeit gebrummt hatte. Die Mutter zieht die Handschuhe aus und streicht ihm über den Bart.
Du siehst gut aus. Aber du bist so dünn.
Du hast mir gefehlt, Mama.
Sieht wirklich gut aus.
Gehört das Auto deinem Freund?
Ja, das ist Ronaldos, er hat es mir geliehen, weil es Automatik hat und eine Heizung. Ich hatte es schön warm auf der Fahrt, und die Straßen waren frei. Machst du deiner Mutter einen Kaffee?
Die Sonne ist von einem Wolkenkranz umrahmt, das Wetter soll bis Montag stabil bleiben. Er trägt den Koffer die Treppe runter, und sie folgt ihm und macht Fotos von der Bucht. Als sie vor der Wohnung stehen, gerät sie kurz in Panik.
Kann das Wasser nicht hier hochkommen?
Ach was, Mama. Dann würde ganz Garopaba unter Wasser stehen.
Er bringt ihren Koffer in sein Zimmer und streicht eine Falte auf dem frisch gewechselten Laken glatt, dabei ruft er ihr zu, dass sie in seinem Bett schlafen werde und er im Wohnzimmer. Die Mutter antwortet nicht, und als er zurück ins Wohnzimmer kommt, sitzt sie auf dem Sofa, die Hände zwischen den Knien, und starrt auf die Hündin, die vor ihr auf dem Teppich steht.
Was ist mit ihr passiert?
Sie wurde angefahren. Richtig schlimm, sie ist fast gestorben.
Sie humpelt, und ihr fehlt ein Ohr.
Nur ein kleines Stück. Es geht ihr schon besser. Wenn wir am Strand sind, wirst du sehen, wie sie läuft.
Wie alt ist sie jetzt?
Fünfzehn oder sechzehn. Du hast sie lange nicht gesehen, oder?
Seitdem ich deinen Vater verlassen habe.
Beta macht einen Schritt auf das Sofa zu. Seine Mutter weicht zurück.
Sie erinnert sich an dich.
Nimm bitte dieses verfluchte Viech hier weg.
Er öffnet die Tür, setzt die Hündin raus, macht die Tür wieder zu. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken und noch eine Weile geredet haben, nimmt er den Autoschlüssel und fährt mit ihr zum Mittagessen in das Restaurant eines kleinen Hotels oberhalb der Praia do Rosa. Es ist leer, für die Wochenend-Surfer ist es noch zu früh. Die Räume sind mit Möbeln aus Altholz, Indianerfiguren, afrikanischen Masken und Totems, Schildkrötenpanzern und Walfischknochen ausgestattet. Aus verdeckten Lautsprechern erklingt leise Musik. Sie wählen einen Tisch in der Nähe der Terrasse, mit Blick auf den Strand und die schöne Lagoa do Meio, in der angeblich schon viele Menschen ertrunken sind, nachdem sie sich in den Algen verfangen haben. Riesige Wellen brechen weit vor der Küste
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