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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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verfrachtet und dem Besitzer den Schlüssel übergeben. Inzwischen ist sie schon wieder in Porto Alegre. Sie entschuldigt sich bei ihm, nicht angerufen zu haben und überhaupt so ohne jede Erklärung verschwunden zu sein. Sie wolle nicht mehr in Garopaba leben und habe auch nicht vor, ihre Arbeit für die Uni zu beenden. Sie hätte schon seit Langem die Orientierung verloren, ohne es zu bemerken. Sie wolle eine Zeit lang bei ihren Eltern wohnen, bis sie ihr Leben geordnet und ihm eine neue Richtung gegeben habe. Sie sei kurz davor gewesen, sich in ihn zu verlieben, aber sie hätte ihn ja gewarnt, oder etwa nicht? Sie könne andere Menschen nicht wirklich mögen. Sie sagt, er sei ein guter Mensch. Wunderschön, zärtlich und ein guter Mensch. Sie hoffe, er habe sich nicht allzu schlimm verliebt. Es sei immer schwer zu tun, was getan werden muss, sich von tollen Menschen zu trennen, selbst wenn man davon überzeugt ist, dass es das Beste ist. Sie sagt, sie habe keinen anderen Ausweg gesehen. An dem Morgen, nachdem sie den Schatz ausgegraben hatte, war sie gegen zehn panisch aufgewacht und hatte das dringende Bedürfnis verspürt, zu flüchten. Die beiden Gegenstände standen nicht mehr auf dem Küchentresen, aber als sie den Mixer auf dem Kühlschrank stehen sah, suchte sie nach der Schachtel und fand sie schließlich unter der Spüle. Sie zog ein paar warme Sachen, Handschuhe und Stiefel an, montierte den Koffer auf dem Motorrad und verstaute Kerzenhalter und Kelch darin. Dann nahm sie ihre Tasche und beschloss, an den abgelegensten Ort zu fahren, den sie mit einer Tankfüllung erreichen konnte, und sich dort von den Sachen zu trennen. Sie fuhr auf der BR-101 Richtung Süden, und je weiter sie Garopaba hinter sich ließ, desto deutlicher spürte sie, dass sie von dieser Reise nicht zurückkommen würde, weil sie auf irgendeine Weise zu Tode käme, noch bevor sie diesen verfluchten Schatz losgeworden war, der wie eine ungesicherte Handgranate in ihrem Motorradkoffer lag. Und in diesem Moment der Klarheit, dieser verzweifelten, fatalistischen Klarheit angesichts des eigenen Todes, sah sie das ganze Ausmaß der Lebenslüge ihrer letzten Jahre. Als hätten die Jahre nach ihrem zwanzigsten Geburtstag die Einzigartigkeit verloren, die sie in der Jugend besaßen, und nur noch vage das Vergehen der Zeit markiert. Sie wollte das nicht hinnehmen. Sie wollte nicht länger allein in einem kleinen Häuschen an einer Lagune leben, und sie wollte auch nicht länger Menschen danach befragen, ob sie Medikamente nehmen und glücklich sind, um daraus Excel-Tabellen und -Grafiken zu erstellen, ohne zu irgendwelchen Schlussfolgerungen zu gelangen. Sie wusste nicht, was sie wollte. Aber das war es nicht. Sie war anders als er. Im Gegensatz zu ihm gehörte sie nicht dorthin und würde es auch nie. Sie hatte lange genug dort gelebt, um das herauszufinden, auch wenn es das Einzige war, was sie hatte herausfinden können. Als ihr das klar wurde, war sie kurz hinter Criciúma und beschloss ohne groß nachzudenken, die nächste Ausfahrt zu nehmen und dann immer geradeaus zu fahren. Die Straße wurde schmaler, und anstelle der postapokalyptischen Städte entlang der BR-101 kam sie durch kleine Dörfer und begrünte Landgüter, während vor ihr die gewaltigen Felswände der Serra Geral auftauchten. Sie sah Papageien und Tukane am Waldrand fliegen und tankte in einem kleinen Städtchen namens Timbé do Sul, wo der Tankwart meinte, den abgelegenen Ort, den sie suche, fände sie vielleicht am ehesten irgendwo dort oben in der Serra da Rocinha. Also trank sie eine Cola, aß eine Tüte Chips, stellte, nachdem sie seine unzähligen Nachrichten und nicht angenommenen Anrufe gesehen hatte, ihr Handy aus und machte sich auf den Weg ins Gebirge. Sie hätte zu dem Zeitpunkt nicht antworten können, ohne alles aufs Spiel zu setzen. Sie fuhr im ersten Gang eine unbefestigte, extrem steile und extrem gefährliche, mit Steinblöcken übersäte Bergstraße hoch, das Motorrad fest zwischen die Beine eingeklemmt, um nicht in einen der furchterregenden Abgründe zu stürzen. Nach einigen Kilometern und Haarnadelkurven, in denen sie betete, nicht von einem entgegenkommenden Lastwagen gerammt zu werden, hielt sie an einer Art natürlichem Aussichtsplatz, genoss das Panorama von den Felswänden der Canyons über die Küstenebene bis ans Meer, nahm Kelch und Kerzenhalter aus dem Motorradkoffer und warf sie nacheinander mit aller Kraft in die nächste Schlucht, wo der

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