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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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wieder ein. Sie sprachen von meinem Großvater. Erinnern Sie sich?
    Habe ich das?
    Ja, das haben Sie. Obwohl ich ihn Ihnen gegenüber nie erwähnt habe.
    Der alte Quirino schnauft in seinem Rollstuhl.
    Die Leute sagen, du würdest dich überall nach ihm erkundigen. Um ehrlich zu sein, hätten dich viele am liebsten schon weggejagt. Ich wurde mehrfach gebeten, dich auf die Straße zu setzen. Aber du hast mir ja das ganze Jahr im Voraus bezahlt. Das wäre also nicht so einfach gewesen.
    Sie sagten, er sei nicht so ruhig und friedlich wie ich gewesen, oder so etwas in der Art. Haben Sie ihn gekannt?
    Ich? Nein.
    Was wissen Sie denn über ihn? Ich weiß, dass er hier gestorben ist, aber darüber hinaus erzählt mir jeder etwas anderes. Ich hatte schon beschlossen, es dabei zu belassen, aber jetzt ist alles wieder hochgekommen, und so langsam macht mich diese Geschichte verrückt.
    Bist du krank? Die Augenringe hast du sonst nicht.
    Ich kann nicht einfach so weiterleben, solange ich nicht weiß, was passiert ist, Dona Cecina. Mein Vater hat mir vor seinem Tod von meinem Großvater erzählt. Er wollte es wissen, und jetzt will ich es wissen. Ich muss. Sie müssen mir helfen. Von den älteren Bewohnern hier sind Sie meine einzige Freundin. Ich bitte Sie inständig. Bitte.
    Der alte Quirino fängt an, mit Spucke zu gurgeln. Dona Cecina sagt eine Weile nichts, schaut zu ihrem behinderten Mann, steht auf, greift nach dem Rollstuhl und schiebt ihn in den Flur hinaus. Nach einigen Minuten kommt sie zurück und setzt sich wieder in den Sessel ihm gegenüber.
    Ich kannte deinen Großvater. Alle kannten ihn, als er hier gelebt hat. Aber nur wenige haben ihn gut gekannt. Ich war damals ein junges Mädchen.
    Wissen Sie, wie er gestorben ist?
    Ja, aber das kann ich nicht erzählen.
    Warum nicht?
    Weil ich Angst habe. Niemand, der das gesehen hat und heute noch lebt, wird dir etwas darüber erzählen.
    Haben Sie es gesehen?
    Ja, habe ich, und ich bete jeden Tag, dass ich es vergesse.
    Dona Cecina stützt den Kopf in die Hand und seufzt. Sie steht auf, holt Stift und Notizblock vom Fernsehtisch, setzt sich wieder und schreibt in aller Ruhe etwas auf, während im Hintergrund eine hysterische Kaufhauswerbung läuft.
    Du darfst niemandem sagen, dass du den Namen von mir hast, sagt Dona Cecina, als sie ihm den Zettel reicht. Erfinde irgendeine Geschichte. Nur mein Mann weiß, dass du hier warst, und der kann nicht sprechen.
    Auf dem Zettel steht der Name einer Frau, Santina, eine Handynummer und eine Adresse in Costa do Macacu.
    Sie hat zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, was damals passiert ist, aber sie weiß alles. Sie ist die Einzige, die mit dir sprechen wird.
    Wer ist sie?
    Sie war die Freundin deines Großvaters.
    Der Weg führt um die Lagoa do Siriú herum, durch Areias do Macacu, Macacu und Morro do Afortunato bis nach Costa do Macacu, einer Ansammlung von kleinen Häusern aus Holz und Stein auf einem teilweise gerodeten Hügel, der sich bis an den Rand der Lagune erstreckt. Vom Örtchen aus gesehen umschließen die Hügel die Lagune und lassen nur einen schmalen Durchgang erkennen, durch den man die Dünen von Siriú sieht, dahinter erstreckt sich das Meer bis an den Horizont. In einem kleinen Stall am Straßenrand stehen zwei wiederkäuende Kühe und wirken wie angewidert von der Landschaft, freundliche Straßenköter beobachten die vorbeifahrenden Fahrräder und Motorräder und bewachen von der Veranda aus oder vor dem Tor ihr kleines Reich. Diemeisten Häuser sind wegen der Kälte verschlossen, kleine Gruppen von Kindern laufen in ihren blauen Uniformen mitten auf der Straße zur Schule. Als kurz hinter der Schule die Bebauung spärlicher wird, taucht links ein steiler Pfad auf, der zu Santinas Haus führt. Nachdem er den langen verschlungenen Weg bis hierhin kräftig in die Pedale getreten hat, muss er das Fahrrad das letzte Stück schieben. Hinter der halboffenen Tür und den Fenstern des babyblau bemalten Hauses sind mehrere Menschen zu erkennen.
    Er klopft vorsichtig an und wird gleich von einer jungen Frau begrüßt, deren Wangen rosig vor Kälte sind. Sie trägt das schwarze Haar zum Pferdeschwanz gebunden und hat eine breite Narbe am Unterkiefer. Als er sagt, dass er Santina suche, mustert sie ihn lange von oben bis unten und hält dabei die Ränder ihrer Strickjacke auf Brusthöhe zusammen. Er erklärt, er habe versucht, vorher anzurufen, aber es sei niemand ran gegangen, und es gehe um etwas Wichtiges. Statt ihm

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