Flut
Fragen zu stellen und auf weitere Erklärungen zu warten, öffnet die junge Frau die Tür und bittet ihn, in ein schwach beleuchtetes Esszimmer zu treten, von dem eine Tür zu einem Flur führt und eine andere zur Küche, aus der es nach Suppenhuhn und Koriander riecht. Der Esstisch ist mit einem rosafarbenen, mit Blumen bestickten Tischtuch gedeckt, an dem ein alter Mann und zwei Kinder essen. Neben der Küchentür sitzt eine kleine, etwa sechzig Jahre alte Frau in einer dicken braunen Wolljacke an einem kleineren Tisch unter einem großen, gerahmten Christusbild und knetet Brotteig. Die jüngere nickt ihr zu, und im selben Moment steht die Frau auf, wischt sich mit einem weißen Tuch das Mehl von den Händen ab und spricht ihn mit dünner, heiserer Stimme an.
Komm rein, mein Junge, komm rein. Hast du schon zu Mittag gegessen?
Danke, ja. Sind Sie Santina? Ich …
Ja, das bin ich, aber in diesem Haus schaut der Besuchnicht den anderen beim Essen zu. Aninha, hol einen Teller. Magst du Hühnereintopf?
Santina will einen Stuhl heranziehen, hält aber plötzlich inne, weicht einen Schritt zurück und hält sich die Hand vor den Mund.
Oh mein Gott, er sieht genauso aus wie der Gaúcho.
Ich bin sein Enkel.
Wer ist der Gaúcho, Oma?
Niemand spricht oder bewegt sich. Santina hält immer noch mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund. Eine weitere Frau erscheint in der Küchentür. Der Alte schluckt etwas runter, lässt geräuschvoll die Gabel auf den Teller fallen und dreht sich zu ihm um.
Was suchst du hier, Junge?
Sei still, Orestes.
Wer ist der Gaúcho, Tante?
Soll ich vielleicht ein andermal wiederkommen?
Nein, nein, ist schon in Ordnung. Hast du gegessen? Aninha, bring den Teller.
Das Mädchen holt Teller und Besteck aus der Küche. Santina bringt ihm ein Glas Coca-Cola, Hühnereintopf, Reis, schwarze Bohnen und eine Schale Maniokmehl. Während er isst, erklärt er, wo er wohnt und woher er kommt. Sein Vater sei Anfang des Jahres gestorben und habe ihm vorher erzählt, dass sein Großvater in Garopaba gelebt hatte. Mit Rücksicht auf die anderen Anwesenden tastet er sich vorsichtig an das Thema heran. Santina scheint das zu merken.
Wir reden am besten draußen weiter. Aber iss erst mal auf.
Beim Verlassen des Hauses bemerkt er, dass aus der leichten Brise von vorhin ein stürmischer Wind geworden ist, der an Bäumen und Büschen rüttelt und die Lagune mit kleinen Wellen bedeckt. Regenwolken sind keine in Sicht. Er stützt Santina am Arm, während sie sich mit kleinen Schritten vorwärtsbewegen. Sie zeigt auf eine Stelle auf der anderen Straßenseite.
Ich kann nicht weit laufen, aber wir können uns da vorn hinsetzen. Da ist eine Holzbank, die Schulmauer schützt uns vor dem Wind. Ich weiß nicht, ob ich dieses Jahr überlebe. Seit sieben Monaten steh ich auf der Warteliste, um mich operieren zu lassen.
Was haben Sie?
Krebs. Zum zweiten Mal.
Santina sagt nicht, was für eine Art von Krebs, und er fragt auch nicht nach. Er gibt sich Mühe, sie nicht zu kräftig anzufassen. Sie wiegt fast nichts.
Wirklich sehr schön hier. Ich war noch nie in dieser Gegend. Von Weitem sehen die Hügel gar nicht so groß aus. Man sieht die Lagune und den Strand aus einer ganz anderen Perspektive.
Sie sieht sich um und zeigt auf den Hang hinter ihrem Haus.
Siehst du das? All diese Grundstücke? Rate mal, wem sie gehören.
Ihrem Mann?
Mir. Mein Mann ist gestorben. Das da im Haus ist mein Bruder. Gerade erst gestern kam hier jemand aus deiner Stadt vorbei und wollte ein Grundstück auf dem Hügel kaufen. Mein Enkel ist mit ihm hoch und hat ihm alles gezeigt. Ich hab fünfzigtausend verlangt, das war ihm zu teuer. Da hab ich gesagt, ich hätte es mir anders überlegt, jetzt koste es eine Million. Das wird es nämlich in zehn Jahren wert sein. Hier werden lauter Villen stehen. Schau dir diese Natur an. Schau gut hin, bald ist es vorbei damit. Ich werde das nicht mehr erleben, aber du schon. Ich hoffe nur, meine Kinder verkaufen nicht zu billig und hauen dann das ganze Geld auf den Kopf. Mein Nachbar hat seinen nichtsnutzigen Kindern jedem ein Grundstück gegeben, die haben es gleich am nächsten Tag verscherbelt und alles für Autoreifen und Drogen ausgegeben. Ich versuche, meinen Kindern und Enkeln klarzumachen, was hier passiert.
Er will ihr helfen, sich hinzusetzen, aber sie winkt ab.
Geht schon. Wie hast du mich gefunden?
Ich habe herumgeforscht. Ich habe den Kommissar aus Laguna gefunden, den Sie damals
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