Flut
konnten. Scham und Angst. Das ist alles.
Ist er denn nicht gestorben?
Wir haben uns noch drei Mal getroffen.
Wo hat er gelebt?
In den Hügeln.
In einem Haus auf dem Hügel?
Nein, einfach so irgendwo in den Hügeln. Aber er war verrückt geworden. Viel war nicht übrig von ihm. Es war traurig. Sehr traurig.
Aber glauben Sie, dass …
Ich weiß es nicht. Zuletzt haben wir uns vor fünf oder sechs Jahren gesehen, und da habe ich beschlossen, dass es das letzte Mal sein würde. Ich bin krank. Einige Dinge will ich mir nicht mehr ansehen. Heute wäre er um die neunzig. Würde mich nicht wundern. So ein Unkraut vergeht nicht so einfach.
Wo haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?
Hier hinten, beim Morro do Freitas. Die anderen beiden Male beim Ouvidor. Aber er zog überall herum. Und überallheißt er anders. In Jaguaruna war die Rede von einem Alten vom Muschelhaufen. Mir war immer klar, dass er das sein musste.
Santina hält sich den Handrücken vor den Mund und sieht ihn an, bis er den Blick abwendet und zur Lagune schaut.
Du willst ihn suchen, oder? Ich weiß es.
Ich glaube ja.
Man sieht es dir an. Du bist ihm so ähnlich.
Das hab ich schon häufiger gehört.
In Cova Triste gibt es einen Mann, der weder lesen noch schreiben kann, sich aber gern kleine Gedichte ausdenkt. Die lässt er dann andere aufschreiben. Eins geht so.
Jeder Alte war mal jung
der Junge wird zum Mann im Leben
Gott bitte ich im Gebet
ihm einen guten Namen zu geben
mein Junge, trag keinen Stolz in dir
den Stolz holt sich die Erde
denn wir sind aus Staub gemacht
derselbe Staub wird uns verzehren
Teil 3
10.
Der buddhistische Tempel steht ganz oben auf dem Morro da Encantada, auf halber Strecke gerät der Wagen ins Schleudern. Leopoldo zieht die Handbremse, dreht die Lawine aus verzerrten Gitarren leiser, die aus den Lautsprechern stürzt, konzentriert sich einen Moment und gibt dann mit hängender Unterlippe, den starren Blick nach vorn gerichtet, vorsichtig Gas. Es regnet und dann wieder nicht. Der dichte Nebel bleibt immer ein Stück über ihnen. Selbst als zwei Zementspuren die Fahrbahn stabilisieren, muss Leopoldo, der den Weg gut kennt, weiter im ersten Gang fahren. Schließlich erreichen sie den höchsten Punkt der Straße, und nach einer kurzen Abfahrt öffnet sich der Wald zu einem Gelände mit mehreren Ebenen. Rechts steht eine Buddha-Statue, links führt ein befestigter Pfad zum Tempel, ein zweistöckiges Gebäude mit portugiesischem Ziegeldach und erdig-roten Holzwänden. Vor der Treppe zum Eingang steht ein Allrad-Jeep. Es ist vor neun Uhr morgens, das Licht, das durch die Wolken dringt, flackert wie das fahle Weiß einer schwächelnden Neonröhre. Die Buddha-Statue ist noch nicht fertig, an diversen Stellen trocknet noch Spachtelmasse. Die Statue ist etwa drei Meter hoch, der Buddha selbst ist ein bisschen größer als ein Mensch. Sein Thron wird von in den Sockel gemeißelten Löwen gestützt. Die Figur hat die Beine zum Lotussitz verschränkt, eine Hand liegt auf dem Schoß, die andere ist erhoben, und in beiden hält sie etwas, das er nicht identifizieren kann. Während Leopoldo, der bei der Errichtung des Tempels geholfen hat, mit zwei Männern spricht, die neben der Statue an einer Dachkonstruktion arbeiten, geht er Lama Palden suchen, mit der er am Vortag telefoniert hat.
Boden, Wände, Decke und Träger im Inneren des Tempels sind aus blutrot bemaltem Holz. Mehrere etwa einen Meter große Statuen von sitzenden Gottheiten machen verschiedene Gesten mit Armen und Händen oder halten Schwerter und andere Reliquien. Sie sind goldfarben, mit Details in Blau, Rot, Grün und Gelb. In einer Ecke steht ein Altar mit dem Bild eines Lama. Unter der Decke hängt ein Meer von Laternen, die mit farbigen Stofffetzen dekoriert sind, überall stehen tibetische Inschriften. Die Gerüche und Geräusche des Regenwalds mischen sich mit Weihrauchduft und dem Knarren der Bodendielen.
In einer Tür, die in einen privaten Hinterhof führt, erscheint plötzlich Lama Palden in Begleitung eines kleinen Mädchens. Beide sind blond und trotz der Kälte barfuß. Sie stellen sich einander vor, aber sie scheint sich nicht daran zu erinnern, dass er am Vortag angerufen hat. Während sie das Mädchen rausschickt, überlegt er, was er sie eigentlich fragen will und wie er es am besten anstellt, ohne ignorant oder respektlos zu klingen, aber noch bevor er etwas sagen kann, weist sie ihn darauf hin, dass er an diesem Tag der erste Besucher ist,
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