Flut
Zeit des Jahres in einer Öko-Kommune. Ente kriecht aus dem Zelt und hockt sich mit den Armen um die Kniegeschlungen neben ihn unter die Plane. Er ist sehr dünn, und die Brille vergrößert seine Augen wie eine Lupe. Die wirre, schwarze Lockenmähne liegt wie ein Kranz um seinen Kopf. Val beugt sich aus dem Zelt, um Hallo zu sagen und sich ihren Gast näher anzusehen. Sie hat dünne Lippen, dicke Augenbrauen, glatte, kurze Haare und einen rosa Fleck auf der linken Wange. Keiner der beiden lächelt auch nur ein einziges Mal. Selbst nach dem tage- oder wochenlangen Dauerregen ist ihr Zelt trocken, was bedeutet, dass die beiden es dort schon vorher aufgebaut haben müssen. Das Gelände ist leicht abschüssig, so dass das Wasser abfließen kann. Sie haben Kanäle um das Zelt herum gegraben und sich eine Kochecke mit einem Gaskocher eingerichtet. Unter einem schwarzen Regenschirm liegen ein paar zugeknotete Plastiksäcke mit Müll. Ente macht den Gaskocher an, setzt Wasser auf und bereitet eine Kalebasse mit Mate vor. Das Baby weint unaufhörlich und, wie es scheint, schon seit langer Zeit, aber die beiden schaffen es offenbar, ihre elterlichen Instinkte abzuschalten, und ignorieren sein Schreien.
Zeltet ihr schon lange hier?
Seit fast einem Monat. Wir sind hergekommen, als Ítalo ein Jahr alt wurde.
Ich hab einen ganz schönen Schrecken bekommen, als ich ihn schreien gehört hab.
Er hat Fieber.
Habt ihr denn Medikamente?
Gestern waren wir mit ihm in Pinheira beim Arzt, sagt Val. Der hat ihm was gegeben.
Sie sprechen sehr langsam und machen vor jeder Antwort eine so lange Pause, dass man denkt, sie würden überhaupt nicht reagieren.
Was macht ihr hier?
Wie meinst du das?
Warum zeltet ihr hier bei dem Regen?
Warum läufst du bei dem Regen durch die Hügel?
Als ich losgelaufen bin, wusste ich nicht, dass es bis in alle Ewigkeit regnen würde.
Wir wussten es auch nicht, als wir herkamen.
Val reicht ihrem Freund ein Päckchen aus Alufolie. Er packt ein Stück Haschisch aus und zerbröselt es in einem kleinen Mörser.
Wo sind wir hier?
Lange Zeit antwortet keiner von beiden. Ente dreht den Joint, und Val fragt irgendwann in einer kurzen Schreipause, was er damit meine.
Was ich womit meine?
Du hast gefragt, wo wir sind.
Ich wollte wissen, wie das hier heißt.
Na, im Tal.
Kennst du das Tal nicht?
Nein, wie heißt denn der nächste Ort?
Da hinten geht es nach Pinheira, so etwa zwanzig Minuten über den Hügel. Ente macht in Zeitlupe eine Geste mit dem Arm, während er mit der anderen Hand den Joint zum Zukleben an den Mund führt.
Es ist echt nicht ganz einfach, sich mit euch zu unterhalten. Ihr seid sehr langsam.
Sie antworten nicht. Val kommt rückwärts aus dem Zelt und holt dann eine hölzerne Wiege hervor. Darin liegt in Decken eingewickelt das Baby. Am Henkel der Wiege hängt eine Art Spielzeug, das aussieht wie ein Spinnennetz.
Was ist das?
Ein Traumfänger.
Um böse Träume abzuwehren?
Sie nickt.
Ein alter Indianerbrauch aus Nordamerika, sagt Ente. Die guten Träume gelangen durch dieses kleine Loch hier, und die bösen bleiben im Spinnennetz hängen und lösen sich bei Tageslicht auf. Die Feder in der Mitte symbolisiert Luft und Atem.
Das Baby sieht, wie sich die Feder im Wind bewegt und lernt, dass es so etwas wie Luft gibt, wie sie funktioniert und dass sie wichtig ist, erklärt Val.
Das Kind schreit so heftig, dass es sich verschluckt.
Ist das normal, dass er so schreit?
Das kommt vom Fieber. Wir holen ihn gleich mal ein bisschen raus, dann hört das erst mal auf.
Und was bekommt er zu essen?
Zum ersten Mal lächelt Val leicht und schaut ihn amüsiert aus dem Augenwinkel an.
Er wird noch gestillt. Und manchmal bekommt er ein bisschen Brei.
Den Brei mach ich selber, sagt Ente, nimmt den ersten Zug und hält ihm den Joint hin.
Nee, aber danke.
Papa macht Brei. Nicht, mein Kleiner?
Val zieht am Joint.
Ist der Rauch nicht schädlich für das Baby?
Nein.
Ein Blitz taucht für einen kurzen Moment alles in Licht, aber noch bevor man etwas erkennen kann, ist es wieder dunkel. Nach einer dramatischen Pause bricht der Donner los. Der Regen wird stärker. Der Wasserkessel pfeift. Er schaut sich nach Beta um, kann sie aber nirgends sehen.
Suchst du was?
Meine Hündin, die eben noch hier war.
Er pfeift und ruft nach ihr. Beta taucht auf, bleibt aber auf Abstand.
Sie soll ruhig mit unter die Plane kommen, sagt Ente.
Dann schüttelt sie sich und macht alles nass.
Wir trocknen sie
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