Flut
verschwindet wieder. Er überlegt, auch Ecstasy zu nehmen, was er seit der Uni nicht mehr gemacht hat, und ihr ab jetzt die Führung zu überlassen, einerseits, weil er davon ausgeht, dass sie sowieso die Nacht zusammen verbringen, andererseits, weil er zu faul ist, selbst die Initiative zu ergreifen. Kurz darauf beobachtet er, wie sie sich wieder von dem Typen mit den gebleichten Haaren vollquatschen lässt. Die Dunkelheit schluckt nicht nur die Gesichter, sondern auch Körper, Gesten, Kleider und Accessoires und damit so gut wie jede Möglichkeit, jemanden wiederzuerkennen. Eine kleine blonde Fotografin läuft die ganze Zeit herum und macht Fotos. Die Grüppchen posieren Arm in Arm, strecken die Zunge raus und machen das Victory-Zeichen. Die Fotografin kommt auf ihn zu und blitzt ihm zweimal ins Gesicht. Er denkt an seinen Wagen, an die Hündin im Hotel und daran, dass er morgen eine Wohnung finden will. Er geht zu Dália, unterbricht den Blonden und sagt, dass er los will. Sie stehen neben einem Lautsprecher, er muss also brüllen. Du kannstjetzt nicht los, schreit sie und legt ihm die Hand auf die Brust. Doch, brüllt er. Mir gefällt es hier nicht, und ich muss mir morgen früh eine Wohnung suchen. Aber du musst mich mit zurücknehmen, sagt sie, leicht verärgert. Dann komm. Mann, ey, protestiert sie. Okay, hau ab, ich komm schon nach Hause. Du bist echt bescheuert. Ohne nachzudenken greift er ihr in die Haare, dringt mit den Fingern zwischen die stramm gespannten Strähnen im Nacken und streicht mit den Kuppen über die Wurzeln auf der Kopfhaut. So hält er sie fest. Sie sieht ihn mit aufgerissenen Augen an und versteht nicht, was er da macht, und er versteht es auch nicht, aber es fühlt sich gut an, und ihr scheint es trotz allem auch zu gefallen. Vielleicht ist es das Ecstasy. Er küsst sie ins Gesicht und lässt sie los. Sie lächelt ein bisschen. Der Typ mit den gebleichten Haaren stößt ihn weg, und er nutzt die Gelegenheit, geht zielsicher in Richtung Ausgang und schmunzelt in sich hinein.
Er fragt den Türsteher nach dem Weg und fährt betrunken los. Plötzlich fängt er an zu schluchzen. Die Straßen sind leer, Garopaba wirkt wie ausgestorben. Immer noch schluchzend betritt er sein Zimmer und erschrickt. Die Hündin sitzt auf dem Bett. Beta, Beta, Beta, wiederholt er zärtlich und drückt das Tier an sich. Sie ist heiß, ihr weiches Fell rutscht über die Muskeln. Erleichtert atmet er ihren salzigen Geruch ein, dann lässt er sie los. Sie bleibt neben dem Kopfkissen sitzen. Erst als er sich die Zähne putzt, merkt er, dass das Schluchzen aufgehört hat.
Bevor er sich schlafen legt, sucht er nach seinem Handy, um zu sehen, wie spät es ist, und stellt fest, dass seine Mutter versucht hat, ihn zu erreichen. 1 Sie hat ihm außerdem eineSMS zum Geburtstag geschickt. Wenn ich auch oft mit dir schimpfe ich liebe dich mein Sohn. Deine Mutter kann nicht anders. Alles Gute mein Schatz. Ich hoffe du bist gut angekommen. Pass auf dich auf. Mama. Es ist vier Uhr morgens. Er schreibt ihr eine SMS zurück. Danke, Mama. Bin gut angekommen. Ich liebe dich auch.
Ein pechschwarzer Hund schläft auf einem himmelblauen Fischernetz, das auf dem Rasen der Praça 21 de Abril zusammengerollt liegt. Die Sonne knallt auf die grauen Stufen zur Pfarrkirche. Die kurze, steile Kopfsteinpflasterstraße neben der Kirche führt an einem Fischerschuppen und einem Fertighaus aus Holz vorbei. Er nickt einer alten Frau zu, die sichauf der Veranda in einem bunten Strandstuhl sonnt. Der salzige Nordostwind bläst durch die Bäume und wühlt das Meer auf. Vereinzelte Wolken rücken wie eine Armee in Trance auf die Küste zu. Die Straße beschreibt eine Linkskurve und führt an einem alten mehrstöckigen Haus mit weißen abgeblätterten Wänden und frisch gestrichenen kobaltblauen Fenstern vorbei. In einem Souvenirladen gibt es gestreifte Teppiche zu kaufen, Schiffchen und Körbe, die sich im Türrahmen und auf den Fensterbänken stapeln. Eine Gruppe aufgekratzter Kinder in blau-weißer Schuluniform kommt ihm entgegen, angeführt von ihrer angespannten Lehrerin. Die Rua São Joaquim führt an Ferienhäusern vorbei zum Kap Ponta da Vigia. Vor ihm liegt die aufgebrachte See, dahinter die Strände und Hügel, die sich über eine weite Kurve bis hin zur Guarda do Embaú erstrecken. Er läuft langsam, so, dass Beta Schritt halten kann. Als sie nicht mehr weiter will, legt er ihr die Leine an und zerrt sie hinter sich her. Ein paar Eltern
Weitere Kostenlose Bücher