Flut
Fische, dann grillen wir die.
Sie geben sich die Hand, und Bonobo umarmt ihn etwas unbeholfen, klopft ihm auf die Schulter und sieht ihn dann ernst an. Um dieser unerwarteten und etwas unangenehmen Vertraulichkeit zu entkommen, sieht er sich im Zimmer um und sucht nach einem Anlass, um das Thema zu wechseln. Ein rotes T-Shirt inmitten der schmutzigen Wäsche erregt seine Aufmerksamkeit.
Bist du nicht Grêmio-Fan?
Logisch, sagt Bonobo.
Und was macht das Inter-Trikot da auf dem Boden?
Bonobo braucht eine Weile, bis er das Hemd in dem Durcheinander entdeckt.
Ach, das ist so eine Art Girlie-Shirt, das geb ich den Mädchen gern mal zum Anziehen.
Du sagst den Inter-Mädels, sie sollen das anziehen?
Genau.
Und die machen das?
Fast alle. Und Grêmio-Fans auch, wenn man es richtig anstellt. Das hat so was Erniedrigendes, da stehen die manchmal drauf. Inter-Fan, die einem Typen einen bläst, das Größte überhaupt.
Sie setzen sich vor die Rezeption und trinken weiter. Draußen ist es noch dunkel, zwei Vögel zwitschern um die Wette.
Ich kann mich nicht mal mehr hinlegen. Die Kleine, die das Frühstück macht, kommt heute nicht. So ein Scheiß. Ich hab vergessen, Obst zu kaufen.
Da du ja religiös bist, will ich dich mal was fragen. Sagen wir, ein berühmter Schriftsteller schreibt einen Text, der nie erscheint, überlässt das Manuskript aber seinem besten Freund und bittet ihn, es nie zu veröffentlichen. Der Autor stirbt. Der Freund liest den Text und stellt fest, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Also zeigt er ihn einem Verleger, der Verleger veröffentlicht ihn, alle stimmen zu, dass es sich um ein Meisterwerk handelt, und der Schriftsteller wird nach seinem Tod noch angesehener.
Gut. Und was ist das Problem?
War es falsch, was der Freund getan hat? Hat er den Schriftsteller verraten?
Ich versteh dich nicht. Hast du einen Freund, der Schriftsteller ist?
Nein. Scheiße. Jetzt warte doch mal.
Was hat das mit Religion zu tun?
Warte. Ich stell die Frage anders.
Bonobos Handy piept, er hat offenbar eine Nachricht bekommen, bleibt aber sitzen.
Ich hab nur nicht verstanden, warum der Schriftsteller ihm den Text gibt, wenn er nicht will, dass er veröffentlicht wird. Warum hat er ihn dann nicht gleich verbrannt?
Nein, vergiss den Schriftsteller. Sagen wir, jemand hat einen Vater, und der hat einen Hund, der ihm sehr nahesteht. Sehr nahe. Er hat ihn von klein an aufgezogen, und er liebt dieses Tier mehr als die Menschen, mehr als seine Frau und seine Kinder. Der Vater beschließt, sich umzubringen, und bittet den Sohn, den Hund einschläfern zu lassen, wenn er tot ist, weil er selbst nicht den Mut dazu hat und weil er weiß, dass der Hund vor Kummer krank wird, wenn er tot ist. Er überredet den Sohn dazu und lässt es sich von ihm versprechen. Der Sohn verspricht es so halbwegs. Der Vater bringt sich um, aber der Sohn bringt den Hund nicht zum Tierarzt, sondern behält ihn und beschließt, sich um ihn zu kümmern.
War das bei dir der Fall?
Es ist nur ein zufälliges Beispiel, das ich mir gerade ausgedacht habe.
Ah, gut, verstehe.
Bonobo unterdrückt einen Rülpser.
Wie denkst du darüber?
Ich denke, dass der Vater ein Arschloch ist.
Okay, aber das ist nicht die Frage. Findest du, das ist Verrat?
Wenn der Sohn es versprochen hat und nicht hält, dann ist das Verrat. Genau wie bei dem Freund, der das Meisterwerk gegen den Willen seines Autors veröffentlicht.
Und wie denkt ein Buddhist darüber?
Bonobo lacht.
Also, ich kann nicht für die Buddhisten sprechen, aber wenn du meine Meinung wissen willst, die Tatsache, dass es sich um Verrat handelt, ist hier nicht das Entscheidende. Entscheidend ist das Ergebnis einer Haltung. Welche Folgen hat die Tat eines Menschen für das Leiden aller Beteiligten. Nachdem der Besitzer des Hundes sich umgebracht hat, kannihm ja egal sein, was aus dem Hund wird, richtig? Er existiert nicht mehr, jedenfalls nicht in diesem Leben. Entscheidend ist jetzt, welche Folgen das nicht eingehaltene Versprechen für das Leben des Sohnes und des Hundes hat und für alle anderen, die direkt oder indirekt involviert sind. Ob es ihr Leiden verstärkt oder geschmälert hat.
Nein, aber …
Nehmen wir an, so rein hypothetisch, der Hund in dieser Geschichte ist der Hund, der hier auf dem Teppich schläft. Oder die Hündin. Sie scheint mir gut genährt. Ihr Fell glänzt. Jetzt schläft sie, aber als sie wach war, wirkte sie zufrieden und stolz. Ich würde sogar wetten, dass die
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