Flut
wäre das Gespräch an einen Punkt gelangt, auf den er gewartet hat.
Das stimmt. Das tauchte irgendwann während der Befragungen auf. Du hast deinen Großvater nie kennengelernt, oder? Wenn mir eins klargeworden ist, dann dass er ständig für Ärger gesorgt hat. Es gab einen ungeklärten Mord an einem Mädchen, ein paar Monate, bevor sie ihn umgelegt haben. Ich schätze, man hat ihn verdächtigt und ihn sich deswegen vorgeknüpft. Ob er es tatsächlich war, ist eine andere Frage.
Zenão Bonato sieht ihn ausdruckslos an.
Verstehst du? Tut mir leid, er war dein Großvater, und wahrscheinlich ist das nicht ganz einfach für dich. Aber so war es. Ich hab also fünfe gerade sein lassen und bin nach Hause gefahren.
Schon okay. Ich weiß nicht mal genau, warum ich in dieser ganzen Scheiße herumstochere.
Er starrt in sein Whiskyglas und nimmt noch einen großen Schluck.
Aber es ist kein schönes Gefühl, sich nicht sicher sein zu können. Ob er ein Mörder war oder nur ein harmloser Raufbold. Ob er dort begraben liegt oder nicht.
Das ist vollkommen normal, dass du das wissen willst. Aber niemand wird dir wirklich erklären können, was mit ihm passiert ist. Manche Menschen verschwinden einfach aus dem Leben, ohne dass man sagen kann, wie oder wohin. Sie hinterlassen eine Menge Spuren, die alle in die falsche Richtung führen.
Glauben Sie, er könnte noch am Leben sein?
Die Augen des Ex-Kommissars funkeln.
Könnte sein. Wer weiß? Aber das ist reine Spekulation und führt zu nichts.
Zenão erhebt sich langsam, gießt nochmal beide Gläser voll und setzt sich in Bewegung, in einer Haltung, die sein Alter verrät, die Knie leicht angewinkelt, der Rücken leicht gekrümmt. Er geht drei Schritte und dreht sich dann um.
Du weißt, was so eine Flasche Wein kostet, oder?
Nein. Wie viel?
Hundertfünfzig. Ich geh kurz pinkeln, bin gleich zurück.
Er nimmt die Flasche und sieht auf das Etikett. Der Wein heißt CORAÇÃO.
Na, mein Süßer. Wollen wir uns nicht ein bisschen zurückziehen?
Das geht leider nicht. Ich hab gerade mein gesamtes Geld für Wein ausgegeben.
Du kannst auch mit Kreditkarte zahlen.
Von der rede ich ja. Den Rest brauche ich für die Behandlung von meinem Hund, der überfahren wurde.
Er trinkt seinen Whisky aus und kaut auf einem Eiswürfel herum. Er ist betrunken. Die Bemerkung über seinen Hund scheint sie nicht zu interessieren. Wahrscheinlich hat sie es nicht mal mitbekommen.
Und was machst du so?
Ich? Ich bin Sportlehrer. Und Triathlet.
Hm, Sportler.
Genau. Ich schwimme, fahre Rad und laufe. Was für eine Scheiße.
Er lacht vor sich hin.
Wieso Scheiße? Ist doch toll.
Nein, das meine ich nicht. Vergiss es. Beachte mich gar nicht. Ich sollte jetzt gehen.
Ich liebe starke Männer.
Er muss wieder lachen. Er ist verzweifelt und hat Angst, allmählich den Verstand zu verlieren.
Wie viele Tattoos hast du, Andreia?
Neun. Das hier am Bein ist ein chinesisches oder japanisches Schriftzeichen, es bedeutet Frieden und Gesundheit, antwortet sie und öffnet den Reißverschluss ihres Stiefels bis zur Hälfte. Das hier, sagt sie und zieht die Bluse über die Hüfte, sind Rosen.
Was bedeuten die Rosen?
Nichts. Sind einfach Blumen.
Und auf der Schulter?
Das ist eine Harley-Davidson auf der Straße. Ich liebe Motorräder. Bist du schon mal mit dem Motorrad unterwegs gewesen?
Er sieht sich die Tätowierung an, kann aber nichts erkennen.
Wo ist das Motorrad?
Na, hier, sie dreht den Kopf nach hinten, zeigt auf die Zeichnung und redet mit ihm wie mit einem Kind, das ist das Motorrad, und das ist die Straße. Die Straße macht eine Kurve. Und auf dem Nummernschild ist ein Totenkopf.
Ah, jetzt seh ich es.
Und dann hab ich noch das hier.
Sie dreht ihm den Rücken zu und zieht die Bluse hoch. In großen Buchstaben steht dort quer über den Lenden GOTT IST TOT.
Das ist aber ein seltsames Tattoo.
Super, oder? Ich liebe Nietzsche.
Wer ist nochmal Nietzsche?
Ein Philosoph. So ein Typ mit Schnurrbart. Eine Freundin von mir hat das gepostet, und ich fand es gut. Ich hab ein Buch von ihm gelesen. »Jenseits von Gut und Böse«.
Kenn ich nicht.
Wollen wir aufs Zimmer, mein Sportler?
Wie teuer ist das?
Hundertfünfzig.
Du kostest genauso viel wie der Wein? Das kann nicht wahr sein.
Sie antwortet nicht.
Das kann nicht sein. Du bist viel mehr wert als der Wein.
Zenão Bonato kommt mit einem Zigarillo zwischen den Zähnen zurück und hält dem Albino-Mädchen die Hand hin. Komm, Branca, lass uns
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