Flutgrab
putzte sich mit seinem Seidentaschentuch die Nase, nahm noch einmal Rungholts Brille vom Schreibpult des Bürgermeisters und sah durch das zersplitterte Glas auf die kostbaren Truhen und Schränke voller Akten. Das Zimmer des Bürgermeisters war gut vier Mal so groß wie seine armselige Kammer im Laubengang. Durch die Splitter schienen die prunkvollen Fenster und die geschnitzten Figuren, die die Deckenbalken hielten, einen frohen Tanz aufzuführen.
»Ich gebe wohl zu, dass es sicher Rungholts Brille ist. Aber vielleicht hat sie sie nur gefunden.« Dartzow ließ sich die Brille reichen und betrachtete sie nachdenklich. Schließlich rieb er sich seufzend die Augen. Es war nach der Komplet, das Rathaus bis auf wenige Schreiber verlassen. Der Bürgermeister stand auf. »Ja, vielleicht wollte sie die Brille für einen ihrer Zauber benutzen.«
»Um Rungholt zu schaden?« Kerkring folgte dem Bürgermeister zu einem Tisch, auf dem Vermessungskarten ausgebreitet lagen. Es waren Schriftstücke aus dem Katasteramt, und einige Häuser waren mit Tinte markiert. Pfeile zeigten durch Gassen.
»Die vermuteten Aufwiegler. Und Fluchtwege. Sollten sie wirklich ins Rathaus eindringen, wäre es gut, wenn wir nicht alle zusammen in einem Saal hocken würden.« Dartzow fing seine langen Haare ein und schob ein Stoffband darüber. »Von meiner Tochter«, erklärte er mit einem Lächeln.
»Ich will gar nicht nach Hause«, sagte Kerkring. »Dieser dräuende Aufstand, die Handwerker … Gott sei Dank ist er ruhig.« Er nickte zu den Bleiglasfenstern, hinter denen sich der Markt mit seinem Kaak verbarg. Der Aufwiegler schlief am Schandpfahl. Kerkring hatte ihn von seiner Schreibkammer aus eine Weile beobachtet.
»Wir sind gerüstet. Ich habe Wachen auf dem Schrangen postiert und den Kämmerer angewiesen, Waffen bereitzuhalten …«, versicherte Dartzow und legte sein Pergament zu den Stadtplänen. Sein Blick wanderte ebenfalls zum Fenster. »Die Leute bringen ihm Essen, wusstet Ihr das?«
Kerkring nickte. »Ich glaube nicht, dass die Knochenfrau, so nannte man sie doch, ihn verfluchen wollte«, brachte er das Gespräch wieder zurück auf Rungholt. »Ich denke, er hat irgendeinen Handel mit der Töverschen getrieben.«
»Und sie sind in Streit geraten?«
Kerkring nickte. »Ihr kennt Rungholts Jähzorn.«
»Und warum glaubt Ihr, dass er mit einer Töverschen Geschäfte abschließt?«
Der Rychtevoghede lächelte nicht. Er blickte den Bürgermeister ernst an, schnäuzte sich ein zweites Mal, um nicht zu theatralisch zu wirken, und zog das Sündenbuch aus seiner Tasche. Er tat zögerlich, als er es dem Bürgermeister über die Lübeckpläne hinschob.
Stirnrunzelnd drehte Dartzow das Buch zu sich her. » Facinora perscripta peccatoris Rungholt … Rungholt?«, las er, nahm sich einen der Lesesteine und setzte ihn auf die ersten Pergamente, fuhr zögerlich damit die Strichmännchen ab.
Punkt, Punkt, Komma, Strich …
Mit einem Mal begann der Gefangene auf dem Marktplatz zu schreien. Seine Rufe drangen zu ihnen herauf. Er würde nicht mehr lange leben. Kerkring hatte längst unterschrieben, ihn in die Fronerei zu bringen. Eine peinliche Befragung würde weitere Mitwisser zu Tage fördern.
»Wie ist es in Euren Besitz gelangt?«, fragte Dartzow, nachdem er einige Seiten des Sündenbuchs begutachtet hatte.
Kerkring hatte sich für die einfachste Geschichte entschieden. Eine Lüge wurde durch kompliziertes Gerede nur verwässert: »Winfried der Kahle hat es in seiner Amtsstube versteckt, und dann habe …«
»Ihr habt es gefunden?«
»Als ich meinen Schreibtisch aufgestellt habe, ja. Es lag unter den Dielen.«
»Vor zwei Jahren habt Ihr es entdeckt und niemandem …«
Kerkring nickte. »So etwas studiert man, so etwas zeigt man keinem. Ich musste sichergehen, dass es echt ist. Was hättet Ihr getan?«
»Und?«
Ein feines Lächeln umschmeichelte Kerkrings Lippen. »Erinnert Ihr Euch, dass Rungholt versuchte, mich aus dem Fenster zu stürzen?«
Dartzow nickte. »Wer könnte das vergessen?« Er wischte sich etwas Ruß vom Zeigefinger und blätterte behutsam um. »Er ist kein netter Mensch, der Rungholt. Ich dachte, es sei um diese fremde Frau gegangen. Wie hieß sie noch …«
»Cyrielle. Nein, es ging um diesen Codex, um dieses Buch, Eric.«
Würde Dartzow bemerken, dass er ihn plötzlich duzte? … Nein. Er war zu sehr gefangen in den krakeligen Zeichnungen.
Punkt, Punkt, Komma, Strich …
Mit einem Mal rieb sich der
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