Flutgrab
gelungen, unbemerkt durch einen Gang in den Hinterhof zu schleichen und von hinten in Rungholts Haus zu gelangen.
Rungholt sah sich um. Sofort erkannte er im Lampenschein, dass sämtliche Notizen abgerissen worden waren. Selbst die Fäden hatten sie mitgenommen. Alles hatte sich in Stunden verändert, einzig das stete Trommeln des Regens war geblieben. Es hatte mittlerweile beinahe etwas Beruhigendes.
»Wo ist das Fass?« Rungholt sah sich nach dem Bierfass um. »Verdammt«, entfuhr es ihm leise. D’ Alighieris Männer hatten nur ein paar Dachschindeln, einige Bretter und einen Haufen feuchter Baumwolle liegen lassen. Der Rest war fort.
Sie suchten die Ecke ab, schauten in jede Ritze und zwischen die Dachbalken. Die Kugel war fort. Marek versuchte zu trösten: »Ist es nicht egal, woraus es ist? Ob’s aus Gold ist oder nicht?«
Sinje stellte sich zu Rungholt und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Gold ist eine feine Substanz, der nachgesagt wird, sie …« Sie brach ab. »Aber wahrscheinlich hat er Recht. Es wird schon nichts Alchemistisches sein.«
»Hoffen wir’s.« Er legte den Schädel verkehrt herum auf den Stapel Holzschindeln, die d’ Alighieri übrig gelassen hatte. »Finden wir erst mal raus, was die Kugel überhaupt anzeigen soll. Wenn deine Überlegung stimmt, muss da drin doch was verzeichnet sein.«
Sinje hob den Schädel an, wog ihn in der Hand. »Hast du ein Stück Kohle?«
Rungholt überlegte kurz, trat zum Schornstein. Rußig genug war er, aber womit …? Ratlos sah sich Rungholt um, streifte dann seufzend seine Gugel vom Kopf und fuhr damit durch den schwarzen Dreck. »Hier. Aber sag’s nicht Alheyd«, meinte er matt. »Wird das gehen?«
»Mal sehen.« Sie fuhr mit ihren schlanken Fingern in die Halsöffnung und wischte den Schädel von innen aus, rieb den Ruß in die Mulden und in die Knochenritzen. Eine feine Linie zeichnete sich krakelig ab, zuckte im Kreis und umschloss eine Großzahl der Mulden.
»Das sind nicht die … die …« Ihm fiel das Wort nicht ein. »Marek, bring mal das Buch.« Er legte den At Tasrif auf Mareks Rücken.
»Reicht’s nicht, dass ich es angefasst habe?«
»Halt still.« Ganz behutsam, um keine der nassen Seiten einzureißen, blätterte Rungholt zu einer filigranen Zeichnung eines Schädels. »Suturen. Ja, die sind es eindeutig nicht. Da ist was eingeritzt worden.«
»Zeig her.« Bemüht, nicht in den Schädel zu tropfen, leuchtete Marek hinein.
»Das sieht aus wie …«
»Wie eine Insel … Das ist doch eine Küste.«
»Gryps hat von einem See gesprochen.« Rungholt schob Marek beiseite. Suchend glitt sein Blick über die Linie. Er drehte den Kopf hin und her, verglich in seinem Kopf alle Seen, die er kannte. »Es ist nicht sehr weit weg«, sprach er zu sich selbst. »Was habe ich Dartzow geraten … Er soll bei Travemünde suchen, hoch bis Scarbuce und runter bis Boltenhagen … Hmmmm …« Mit einem Mal lag ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
»Was?«, wollten Marek und Sinje gleichzeitig wissen.
»Hemmelsdorfer See. Es ist der Hemmelsdorfer See.«
»Der ist ziemlich groß«, warf Marek ein.
»Ja, deswegen die Mulden. Da kannst du Wochen nach entführten Kindern suchen.«
»Oder nach dem Schatz des Nordmanns«, meinte Marek.
»Ohne das hier? Ja.« Rungholt griff zu seinen Säckchen, band eines vom Gürtel und schüttete den Inhalt in seine Pranke.
Es war der Schlüssel. Rungholt hatte ihn aus Agnes’ Hals geschnitten. Dort, wo Speise- und Luftröhre sich trennen, hatte er sich am Kehlkopfdeckel verhakt. Der Ring glich nur entfernt einem Schmuckstück. Er war selbst für Rungholts stummelige Finger zu weit, um ihn überzustreifen, und auf seiner Außenseite waren stachelige Zeichen herausgearbeitet worden. Ein Stern, ein Kreuz, zwei Vierecke.
Rungholt griff sich die rußige Gugel und strich über den Schädel. Sofort traten die Runen und die winzigen Ringmarkierungen hervor. Gespannt suchten sie gemeinsam nach dem Kranz mit der Kombination. Sie mussten nicht allzu lange vergleichen.
»Hier. Auf der Seite. Hinter der Stirn.« Rungholt tippte drauf. »Stern, Kreuz, Viereck, Viereck, Stern.« Er legte den Ring auf die Schindeln und sah sich nach etwas um, das sie als Kugel benutzen konnten.
Wenig später hatte er feuchte Reste von Rungholts Baumwolle zusammengeknüllt und eine Scherbe als Beschwerung hineingesteckt.
»Und du meinst, es ist schwer genug?«, wollte Marek wissen, als er sich voller Erwartung mit Rungholt und
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