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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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spiegelnde und von tausenden Tropfen aufgewühlte Oberfläche reichte von der Mauer beim Koberg bis zu den ärmlichen Hütten, die die Rückseite des Langen Lohbergs bildeten. Grabsteine und Kreuze, halb versunken, weggeknickt und unterspült, schrägten aus dem Wasser und schienen sich gegen den Wind zu stemmen. Hier auf dem freien Platz schoss der Regen beinahe waagerecht heran.
    »Hast du sie?« Rungholt suchte Halt, um Agnes bei den Beinen zu packen. Die Leichenstarre war vergangen, sodass die Magd ihnen wie ein glitschiger Sack ständig wegrutschte.
    »Zieh. Sie ist gleich draußen. Jetzt.« Die zwei hievten die Tote auf den aufgeschichteten Berg, den Mareks Buddelei hinterlassen hatte. Diesmal konnten sie beide nicht hinsehen. Selbst Rungholt suchte Mut, indem er einen Moment den Mond anstarrte, dessen Licht vom Regen zerschnitten wurde. Die Frau war in einem schlimmen Zustand. Nach einer Woche unter der Erde hatte sich ihre Haut in ein wirres Farbspiel aus Blau und Grün verwandelt. Agnes’ Bauch war leicht aufgedunsen, ihre Nase eingedrückt. Dank des Regens wirkte sie wie eine Wasserleiche. Das Schlimmste, fand Rungholt, waren jedoch ihre Füße. Sie sahen aus wie seine eigenen. Faltig und aufgequollen durch das tagelange Liegen im Wasser.
    »Warum glaubst du, dass sie ihn hat?«, keuchte Marek gepresst und hielt sich die dreckige Decke vor Nase und Mund. »Den Ring, mein ich. Du hast dir Agnes’ Leiche mehr als einmal angesehen.«
    »Weil Gryps sagte, sie sei der Schlüssel. Deswegen.« Rungholt träufelte sich Rosenwasser unter die Nase. »Ich habe irgendwas übersehen.« Er bezweifelte, dass der Duft bei dem Regen lange hielt, war aber froh, dass Sinje welches in ihrem Vorrat gehabt hatte. Er reichte die Phiole an Marek. Obwohl er wusste, dass sie keinen Ring trug, nahm er sich noch einmal Agnes’ Hände vor.
    »Warum passen wir nicht einfach diesen Poling ab, setzen ihm eine Klinge an den Hals und zwingen ihn, uns hinzuführen?«
    »Weil sie dich gesehen haben. Du glaubst doch nicht, dass sie so schnell nach Lübeck zurückkommen. Und hast du nicht gesagt, sie würden heute noch eine Tauchfahrt unternehmen?«
    Rungholts Kapitän versuchte, sich zu erinnern. Schließlich nickte er. »Sie wollten gestern nicht nach Hause, ja.«
    Widerwillig kontrollierte Rungholt die wasserfaltigen Hände. Weil er von Weibsbildern gehört hatte, die Schmuck an den Zehen trugen, überwand er sich und sah sich auch die Waschfrauenfüße genauer an. Nichts.
    Die Ohren, dachte er. Ohrringe.
    Er strich ihr Haar beiseite und kontrollierte die Ohrläppchen.
    »Nichts. Da ist nichts.«
    »Wahrscheinlich hat sie ihn versteckt. Vielleicht in diesem Turm. Soll ich sie wieder eingraben?«
    Rungholt schüttelte den Kopf. »Ich … Das kann doch nicht sein. Irgendwo muss …« Voller Verzweiflung setzte er sich neben sie auf den Hintern. Ihm war egal, wie er nachher wieder hochkam.
    »Wenn sie der Schlüssel ist«, grübelte Marek. »Vielleicht müssen wir dann den Schädel irgendwie auf sie drauflegen.«
    »Im Leben nicht.«
    »Sie ist der Schlüssel … Sie ist der Schlüssel. Das hat Gryps gesagt?«
    »Ja, er meinte: Sie ist der Schlüssel … Sie ist …« Rungholt stockte. »Moment mal. Hilf mir hoch.«
    Wieder riss er das Tuch beiseite und tastete den Hals ab. »Sie ist erstickt. Sie hat was Falsches gegessen, bekommt Hustenanfälle und erstickt. Sie ist der Schlüssel … Sie isst den Schlüssel.« Rungholt wandte sich zu Marek um, der eine seiner buschigen Augenbrauen hochgezogen hatte und seinen Freund regungslos musterte. Der Regen lief ihm über die Wangen.
    »Das hat er gesagt!« Rungholt begann zu lachen. »Marek! Das hat er gesagt! Sie isst den Schlüssel … Er wollte mir erzählen, was auf ihrer Flucht vor dem Mann passierte, der Peterchen umbrachte. Schädel, Kugel, Schlüssel, hat Schmiede-Gryps gesagt.« Rungholt ließ seine Gnippe aufspringen. »Er sagte: ›Agnes wollte ihn nicht hergeben. Sie wollte nicht, dass sie den Hort finden. Agnes ist der Schlüssel.‹ Und dann ist er gestorben. Ich habe ihn einfach falsch verstanden.«
    Entschlossen wischte sich Rungholt das Wasser von den Wangen und setzte ohne weiteres Zögern Agnes die Klinge an den Hals.
    Dartzow streute Löschsand auf sein Pergament und rollte ihn behutsam ab. »Ich weiß nicht, Kerkring. Entrissen? Die Brille soll sie Rungholt entrissen haben?«
    »Wäre doch möglich. So wie diese, Ihr wisst schon, Töversche, sie umklammert hielt.« Kerkring

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