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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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seiner Brille, holte sein Tafelbuch unter dem Tappert hervor und klappte das Diptychon auf. In dem blankpolierten Eichenholz des Rahmens war ein Elfenbeinstilus eingelassen. Es war eine schöne Arbeit – die Schreibseite zierte ein schlanker Fischkopf, sodass Rungholt mit der Fischzunge in das Wachs kratzen und mit der Flosse am anderen Ende alles wieder glattziehen konnte. Er notierte die Plünderung des Fischwagens und dass der Dieb mühelos einen zentnerschweren Karren verrücken konnte. Nach einem Moment notierte er noch, dass er Kerzen kaufen wollte, um sie in St. Marien aufzustellen. Für Marek.
    »Er wusste, dass er verfolgt wird?«
    Der Büttel lachte. »So sicher, wie ’ne Kuh furzt. Natürlich wusste er das. Wie so ’n Ochse is der gerannt.«
    »Lasst uns die andere Seite ansehen. Hier bin ich fertig.«
    »Und? Was sagt Ihr?« De Kraih, der die ganze Zeit stumm das Gespräch verfolgt hatte, schüttelte seinen Schirm aus, nur um ihn sofort wieder hochzuhalten. Ein paar Tropfen liefen seine lange Nase hinab.
    Wahrscheinlich denkt dieser Lakai, ich murmle einen Zauber, lutsche ein bisschen Erde und weiß dann genau, was geschehen ist.
    »Hat wirklich Kraft, der Mann«, entgegnete Rungholt lapidar. Er konnte die Enttäuschung förmlich an der langen Nase der Krähe ablesen, als er an ihm vorbei zurück zum Gang schritt. »Der Hammermann hat das nicht geplant«, erklärte Rungholt im Weggehen. Er spürte, wie das Pfützenwasser seine Stiefel eroberte. Seine Beinlinge saugten sich voll. Immerhin hatten sie noch nicht Herbst. Der Juliregen war einigermaßen warm. »Er ist hier reingerannt, weil er schnell sein wollte. Wahrscheinlich war es wirklich nur Glück, dass ihr ihn nicht gestellt habt.«
    »Meine Worte, Herr. Meine Worte.«
    »Auf jeden Fall haben wir es mit einem sehr dummen Dieb zu tun. Wahrscheinlich war es eine Verzweiflungstat. Unüberlegt, aus der Not geboren.«
    De Kraih schloss zu Rungholt auf und hielt ihm abermals den Schirm. »Warum? Wie kommt Ihr darauf?«
    Sie tauchten in den Gang zur Hartengrube ein.
    »Er sieht den Kurier und schlägt zu. Er ist verzweifelt. Er weiß nicht, wie überleben. Vielleicht hat er Kinder und kann sie nicht mehr durchfüttern … Er kennt seine Kraft, er sieht seine Gelegenheit und nutzt sie.«
    »Und das lest Ihr alles aus einem Riss und einem vermoderten Karren?«
    »Nein«, knurrte Rungholt, riss de Kraih den Schirm aus der Hand und warf ihn unter sich in die Pfütze. »Das weiß ich, weil er sich anscheinend keinen Plan zurechtgelegt hat, wie er entkommen kann. Und ein Dieb, der seine Flucht nicht vorbereitet, ist entweder dumm …«
    »… oder sehr verzweifelt«, murmelte de Kraih mit wehleidigem Blick auf seinen fellbespannten Stock.
    »Oder sehr verzweifelt. So ist es … Bevor Ihr das Ding aufhebt, trampel ich drauf rum! Kommt jetzt, sehen wir uns die Rückseite an. Gehen wir den Weg Eures Büttels ab.«
    Bei jedem Schritt wurde Rungholt durch das Brennen seiner Rückenwunde an den Dachsturz erinnert. Als sie in die Effengrube einbogen, zerriss ein Blitz den Himmel. Unwillkürlich zuckte Rungholt zusammen und wartete auf den Donner.
    Wie anmaßend wir sind, dachte er. Wir denken, wir steuern die Welt wie ein Schiff, doch in Wirklichkeit lenken nicht wir das Schiff übers Meer, sondern das Meer treibt sein Spiel mit dem Schiff. Tag für Tag wollen wir der Schöpfung ein Schnippchen schlagen, bauen Häuser, Dämme, Schiffe und Straßen. Dabei sind wir Gottes Willen machtlos ausgeliefert.
    Sie durchquerten den Zugang und standen wenig später im Grützmachergang. Vom Hinterhof war lediglich ein schmaler Schlauch geblieben. Rechts und links hockten zweistöckige Buden unter dem bleiernen Himmel. Sie waren eingerüstet. Wacklige Bretter und windschiefe, aus Ästen und Hanf geknotete Leitern bildeten ein Gewirr aus Pfaden und Plattformen. Die Baustelle war verlassen.
    »Gestern hat hier auch keiner gearbeitet«, warf der Büttel ein, und Rungholt dachte: Wie auch? Es war ja spät in der Nacht.
    Er passierte einige Mörteleimer, die sorglos mit Säcken abgedeckt worden waren, und trat näher an den Karren heran. Die Schleifspuren im Schlamm waren unübersehbar. Der Handwagen war tatsächlich anderthalb Klafter vor den Riss in der Mauer gezogen worden, und dann hatte ihn jemand – wahrscheinlich die Bewohner der Gänge – wieder ein Stück zurückgedrückt.
    Rungholt wischte sich das Wasser von der Brille, ging ein paar Klafter weiter und blieb mit einem

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