Flutgrab
lösten sich von der Haut.
Rungholt knurrte. »Und? Was seht Ihr? Sagt schon!«
»Schwer zu sagen. Ich bin kein Medicus, Herr.«
»Genau deswegen sollt ja auch Ihr einen Blick drauf werfen. Bei diesen Quacksalbern holt man sich nur den Tod … Juckt das!« Kurzerhand schnappte sich Rungholt eine der Braukellen und kratzte sich damit. Zögerlich erklärte der Braumeister, dass die Wunde unrein aussehe. Sie stünde einen halben Daumen breit offen.
»Und die Ränder?«
»Sind rau. Aber ich sehe Eiter! Das ist doch gut, Herr. Eiter reinigt die Wunde.«
Rungholt knurrte. Das klang nicht gut.
»Wenn ich Ihr wäre, würd ich’s ausbrennen lassen.«
Brummend nahm Rungholt den letzten Bissen Mus. Der Gedanke, ein glühendes Eisen in den Rücken gedrückt zu bekommen, ließ seinen Magen rebellieren. »Ausbrennen? … Na, wollen sehen. Tut ja kaum weh.«
»An Eurer Stelle würde ich einen Wundheiler …«
»Ihr seid aber nicht an meiner Stelle! Und nun haltet das Maul. Ich wollte wissen, wie es aussieht, keine dämlichen Ratschläge.«
Konsterniert stand der Braumeister einen Lidschlag da, bevor er sich verneigte und seinen Bart zwirbelnd wieder an die Arbeit ging.
»He! Ihr versoffener Bierpanscher! Wollt Ihr mir nicht einen neuen Verband umlegen?«, rief Rungholt ihm nach.
Den Stiefel des Diebs in ein Stück Loden geschlagen, schritt Rungholt durch den Nieselregen, so schnell es seine Wunde zuließ, den Langen Lohberg hinauf.
Die schmale Gasse glich auf fünfzig Klaftern einem Warenlager. Rechts und links stapelten sich Felle und Säcke mit Lohe. Einige der Gerber zerkleinerten die Eichen- und Fichtenrinde selbst, andere hatten sich zusammengeschlossen und brachten sie zu einer der Wassermühlen am Hüxterdamm.
In anderen Städten nannte man die Gerber schlicht Stänker oder Stinker. Richtiger Name für dieses ehrlose Pack, dachte Rungholt und versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Der Gestank der Gerber, die der Rat bereits vor Jahren an den Stadtrand verbannt hatte, verfing sich zwischen den Häusern und verteilte sich im ganzen Jakobiquartier. Der Regen konnte den Geruch aus Urin, Hundekot und Taubendreck nicht vertreiben. Es waren einfach zu viele Gerber an einem Fleck, die ihre Häute in dieser ekligen Beize einlegten.
Er schob sich die letzten Klafter den Lohberg hinauf und hatte das Gefühl, Blicke in seinem Rücken zu spüren. Wegen des Regens waren kaum Lübecker auf den Straßen. Als er in die Gröpelgrube abbog, konnte er dem Drang nicht mehr widerstehen und wandte sich um. Es war niemand zu sehen. Rungholt ließ seinen Blick über die Häuser gleiten. Ein paar Kinder tobten durch die Pfützen, ein Bauer zog jammernd mit einer Handkarre verschimmelten Strohs an ihm vorbei. Noch immer spürte er Blicke, aber da war niemand.
Über ein halbes Dutzend Töpfer hatten hier ihre Werkstatt eingerichtet. Meist in Kellern oder Hinterhöfen. Das Surren ihrer Töpferscheiben untermalte das Plätschern des Regens. Die Bohlen der Gasse waren abgesackt und knöcheltief in den Schlamm eingesunken. Entlang der Häuser hatte sich der Regen ein brustbreites Flussbett bis hinunter zur Wakenitzmauer gegraben. Manche von ihnen knietief in einer beachtlichen Pfütze stehend, stützten Soldaten die Stadtmauer mit Balken ab und trieben Bretter in den Morast. Auf mehrere Klafter drohte die bewehrte Mauer unterspült zu werden.
Als Rungholt noch bei Nyebur in die Lehre gegangen war, hieß die Gegend beim Lohberg und der Gröpelgrube Poggenpole – Froschtümpel. Eine sumpfige Au voller Libellen, Nattern und Kröten war dies gewesen. Und lang war das nicht her.
Alles geht zurück zu seinem Ursprung, dachte Rungholt grimmig. In einem Jahr war’s heiß wie nie – als steckte Lübeck in der Hölle fest – und heute? In diesem Sommer wird die Stadt einfach weggespült. Hinweggerissen wie einst meine Heimat. Die Insel Rungholt ist in einer Sturmflut versunken, so plötzlich gestorben wie ein Ochse, dem man mit einem einzigen Schwerthieb den Kopf abhackt. Lübeck jedoch, Lübeck stirbt wie ein Fisch, der an Land nach Luft schnappt. Langsam. Kaum merklich.
Asche zu Asche. Staub zu Staub. Matsch zu Matsch. Wasser zu Wasser.
Nyebur hätte das sicher gefallen: Der Junge, den er aus den Wogen fischt und dem er alles beibringt, versinkt als verarmter Nichtsnutz wieder in den himmlischen Fluten, wird zweiunddreißig Jahre nach seiner Rettung doch noch hinfortgespült. Großartig. Nyebur liebte solche Aphorismen, und Rungholt
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