Flutgrab
Eindruck währte nur kurz. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Er ahnte, was wirklich in dem Sack war.
»Habt Ihr etwa die Edelsteine?« De Kraih reckte seinen Schnabel in Rungholts Richtung, um mehr zu sehen.
Rungholts Bauch knurrte, noch bevor er das kalte Stück ins Gewitterlicht gezogen hatte. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, seinen Fund sofort loszulassen.
Es war ein Knochen.
Ein Totenschädel.
Er hielt ihn in den Regen. Der Schädel war klein. Nicht der Kopf eines Mannes, nicht der eines Weibes.
Ein Kinderschädel.
Der Unterkiefer fehlte, und der Oberkiefer war glattgefeilt worden. Keine Zähne. Ansonsten war der Kopf vollständig. Der Knochen glänzte abgekocht. Als ein weiterer Blitz zuckte, konnte Rungholt ihn in einer Hand wie poliert schimmern sehen. Er roch das Öl, mit dem er eingerieben worden war.
De Kraih trat heran. Sein Atem ging ruhig. Er bekreuzigte sich. »Vater unsir. du in himile bist. din namo werde giheiliget. din riche chome … Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.«
Drachenköpfe und Runen schmückten ihn. Jedes einzelne kleiner als ein Fingernagel, bedeckten die Symbole den ganzen Schädel. Zwei Spiralen, die, von den Augenhöhlen beginnend, sich bis über den Hinterkopf in einem komplizierten Reigen ergossen. Es waren hunderte Runen.
»Ich glaube, der Hammermann hat ihn verloren, aber … ich kann Euch nicht sagen, was das soll.«
»Run’n? Sind das Run’n?« Der Krauskopf sprach es wie Ruhn aus. »Herr im Himmel, das is ’n schlechtes Omen.«
Rungholt nickte stumm.
Ja, dachte er. Es sind Runen. Die alten, bösen Zeichen des gottlosen Zeitalters. Ein verfluchter Kinderschädel mit den magischen Hexerzeichen der Víkingr. Was für einen Dieb suche ich hier wirklich?
Einen Moment standen die drei ungleichen Männer einfach da und schwiegen, versuchten zu begreifen, was sie da im Schlamm gefunden hatten.
8
Bis auf die Bruche ausgezogen, seinen nassen Tappert und die Beinlinge vors Feuer gehängt, aß Rungholt einen Hering mit herrlicher Soße aus Brot, Wein und Ingwer. Die gebratenen Mandeln und Zwiebeln, die die Köchin vom Blauen Beil in der Burgstraße hineingerührt hatte, rochen vorzüglich und vertrieben ein wenig die schlechte Laune, die Rungholt seit dem Fund begleitete. De Kraih hatte ihn gebeten, den Schädel d’ Alighieri zu überlassen. Der Bankier kenne eine Reihe von fachkundigen Schreibern, die sicherlich etwas über die Runen herausfinden könnten. Rungholt hatte abgelehnt, immerhin stand er mit dem bleichen Wittenfresser im Wettstreit, und wer sagte ihm, dass diese blutleere Seele nicht einfach ein paar Tage herausschinden würde und Rungholt nichts verriet. Schließlich ging es um viel Geld, wenn nicht um Rungholts Leben.
Rungholt leckte den Holzlöffel ab und schaufelte sich noch einmal besonders viel von den Mandeln auf. Über den Preis dieses Festmahls wollte er lieber nicht nachdenken, aber zu Hause Hildes dünnen Hirsebrei vom Vortag löffeln und sich dabei von Alheyd Vorträge über seine Wunde anhören? Er war lieber in die Hundegasse geflohen.
Hier im Arbeitszimmer seiner Brauerei, zwischen zusammengesuchten Möbeln und einem Schreibtisch, der bloß aus einem Brett und Backsteinen bestand, hatte er seinen Braumeister gebeten, das Feuer zu schüren.
Während er gierig aß, konnte er den mannshohen, kupfernen Sudkessel sehen. An die Baustelle, die hier im März vor zwei Jahren noch gewesen war, erinnerte nichts mehr. Außer seiner behelfsmäßig eingerichteten Schreibkammer vielleicht.
Rungholt nahm einen Schluck Starkbier. Es schmeckte mundig und voll. Die Fertigung lief dennoch bloß auf halber Kraft, und die meisten Fässer für den Export stapelten sich in der zweiten Diele und dem Keller des Doppelhauses.
Der Geruch der Maische vermischte sich mit dem Heringsduft und dem Schweißgestank seines Braumeisters, der gerade hinter ihn trat. Vorsichtig begann der Mann, den durchnässten Verband von Rungholts Rücken zu lösen.
»Nun stellt Euch nicht so weibisch an. Das juckt wie hundert Bienenstiche. Zieht es weg, verflucht. Ihr sollt mich nicht kitzeln.« Gierig stopfte sich Rungholt ein weiteres Stück Hering in den Mund. Noch besser als der Fisch wäre eine Ente gewesen, aber sie hätte ihn so viel gekostet, wie der fette Braumeister in einem halben Monat bekam.
Der fasste sich ein Herz und rupfte den Verband ab. Das geronnene Blut, der getrocknete Rotwein und Eiter hatten sich mit dem Stoff verklebt und
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