Flutgrab
Euch die Spuren hier an.« Er deutete auf eine Vielzahl von kleineren und großen Punkten. »Da hat sich’s Feuer reingefressen.«
»Glühende Asche?«
Der Greis nickte. »Das frisst sich hier und hier … Ah, und hier frisst es sich auch bis auf die letzte Lage durch. Dieser Stiefel hat nicht nur einmal Feuer gerochen. Und seht Ihr die verstärkte Krampe?«
Der Schaft des Stiefels war mit dickem Leder noch einmal extra umschlossen worden.
»Er ist ausgebessert worden«, stellte Rungholt fest.
»Mehrmals. Die Sohle ist durchgeweicht, zerstört vom Schlamm. Da hat jemand wohl zu lange in dem Wetter draußen gestanden. Und den Rest hat das Feuer erledigt.«
»Dann muss ich wohl nicht nach dem zweiten suchen.«
»Schmeißt ihn weg.« Der Lerchenmann lehnte sich vertraulich vor. Rungholt konnte seinen branntweingeschwängerten Atem riechen. »Ich mach Euch bessere. Der wäre doch auch gar nicht Eurer Größe angemessen.«
Rungholt überlegte einen Moment, ob er den Spaß mitmachen sollte, drehte sich dann herum. Er stützte sich am Regal ab und hob seinen Fuß, sodass der Greis Maß nehmen konnte.
»Oh. Selbst Ihr lebt nicht auf so großem Fuße.«
Wenn du wüsstest, dachte Rungholt.
»Den muss ein Kerl von wahrlich stattlichen Maßen getragen haben.«
Da flog mit einem Knall die Tür auf, jemand stolperte rückwärts herein, fiel gegen Rungholt, der das Gleichgewicht verlor und mit einem Aufschrei den Tisch umriss. Die Lerchen piepten und flatterten aufgeregt in ihren Gefängnissen, während Rungholt auf dem Strohlager des Alten landete.
»Du Drecksgöre!«, hörte Rungholt Lerchenmann brüllen, bevor er begriff, was geschehen war. Ein Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, war durch die Tür gestoßen worden. Ihre Haare und ihr Gesicht waren schlammverkrustet. Moos und Äste ragten aus ihrem ehemals hübschen Kleid. Fünf, sechs Kinder lachten und giggelten an der Werkstatttür und rannten erst davon, als das Mädchen auf die Beine sprang und ihren Knüppel schnappte.
»Ich fresse euch!«, schrie es mit verstellter Stimme und stürzte den Kindern knüppelschwingend nach. Die Rufe des Alten schien es gar nicht wahrzunehmen.
»Werden immer frecher, diese Blagen.«
»Es sind Kinder«, stellte Rungholt milde fest und zog sich mühsam auf die Seite, weil er wegen seines Bauchs nur so zum Sitzen kam.
»Aber ihre Spiele … Ich mag sie nicht, ihre Spiele.«
»Was für Spiele denn?« Rungholt stützte sich auf den umgestürzten Tisch und zog sich auf die Beine. Wieder kam er sich vor wie einer von Mirkes runden Käfern, den man tunlichst nicht auf den Rücken legen sollte.
»Er soll ganz mit Moos bedeckt sein. Und rohes Fleisch essen. Bei Sereetz ist er zu Ostern um die Mühle geschlichen. Und jetzt wütet er hier. Ganz dreckig soll er sein und einen Baum als Keule schwingen.«
»Was? … Wer?«
Die beiden hörten die Kinderschar über den Hof wetzen. »Na, habt Ihr nicht gesehen, wie sie aussieht?«
Rungholt verstand nicht, was der Greis ihm sagen wollte.
»Der Wilde Mann. Aus den Wäldern. Er frisst unsere Kinder.«
Lerchenmanns Worte vermischten sich mit den Rufen und dem Lachen der Spielenden. Rungholt konnte sie durch die offen stehende Tür sehen. Bald aber wurden ihre kleinen Gestalten von den Schatten der Häuser geschluckt, und sie waren auf dem schmalen Pfad zur Gröpelgrube verschwunden.
9
Misstrauisch roch Rungholt an der Holzdaube, die Hilde ihm hinschob. Ein grauer Brei schwappte in der Schüssel. Er steckte seinen Finger rein und rührte ein bisschen. Das Zeug war zähflüssig und klumpte.
»Was zum Teufel …?«
»Dein Abendmahl.« Alheyd trat hinter ihn. »Hirsebrei mit Gemüse.«
»Hm. Mit Gemüse meinst du wohl Erbsen. Wie die letzten Wochen.« Noch einmal schnupperte Rungholt an dem Mus. »Riecht, als hätte ich genau die Schüssel schon gestern gegessen. Im Keller ist doch noch Schinken.«
»Den lassen wir da auch schön abhängen.«
»Aber …«
»Nichts aber. Der ist für besondere Anlässe.« Alheyd strich ihm über die Schultern. »Koste doch erst mal. Hilde hat sogar Thymian reingetan.«
»Stinkt wie bei den Gerbern.« Unwirsch stieß er ihre Hand beiseite, als sie ihm am Kragen seiner Heuke herumnestelte. »Lass das, Weib.«
»Jetzt iss. Mit vollem Magen hast du bessere Laune.«
Wie gerne hätte er jetzt bei Ente und Bier mit Marek im Travekrug gesessen. Widerwillig nahm er den Löffel und starrte den Brei an. »Ha! Da! Erbsen. Ich hab Recht.«
»Iss!«
Er stippte
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