Flutgrab
konnte sich sehr gut das schiefe Lächeln seines alten Herrn vorstellen.
Er bog in die Rosenstraße ein und hielt auf einen winzigen Backsteinanbau zu. Es war die Werkstatt eines Schusters, bloß ein Stockwerk hoch, dennoch windschief, als habe sie Jahrhunderte gegen den Seewind ankämpfen müssen.
Als er die Gasse überquerte, meinte er im Augenwinkel einen Schatten zu sehen. Abrupt riss er den Kopf herum. Jemand tauchte hinter einem Pferdewagen ab, der Krüge und Bretter geladen hatte. Der Schatten zurrte die Pferde an, klopfte ihre Flanken. Er war massig, aber nicht annähernd so riesig, wie angeblich dieser Hammermann sein sollte.
Dennoch fühlte Rungholt nach dem Schädel, den er in einem Beutel an einem zweiten Gürtel unter der Heuke trug. Er war sich sicher, dass d’ Alighieris Dieb ihn verloren hatte, auch wenn ihm vollkommen schleierhaft war, warum jemand, der einen Kurier überfiel, eine derart grausame … Wie sollte man es nennen? … Reliquie? … bei sich trug.
Rungholt wandte sich ab und folgte dem schmalen Pfad zum Backsteinhäuschen. Mehrmals klopfte er an die von Pilzen und Moos besetzte Tür, die bei jedem Schlag aus den Angeln zu fallen und den Backsteinanbau mitzureißen drohte. Nachdem sich niemand meldete, schob Rungholt die Tür auf und betrat die Werkstatt.
Vor einem Strohlager, das als Bett diente, standen ein Schemel und ein niedriger Tisch, unter dessen wurmstichiger Platte ein Grapen als Wasserwanne missbraucht wurde, in welcher der Altbüßer die Brandsohlen einweichte. Zahlreiche Lederreste stapelten sich in einem staubigen, verzogenen Regal. Der Raum lag im Schummer, da keine Fackel brannte.
»Lerchenmann?« Rungholt versuchte vergeblich, seinen Flickschuster auszumachen. »Wo steckst du?«
Schon lange brachte Rungholt seine Schuhe zu dem greisen Lerchenmann. Er hatte ihn nie gefragt, warum er so hieß, und es war ihm auch gleich. Hauptsache, der Alte lieferte gute Arbeit ab. Und das tat er. Lerchenmann war mit seinen einundsechzig Jahren ein begnadeter Schuster, auch wenn er nur Schuhe ausbessern und keine herstellen durfte. Einen versierteren hatte Rungholt bisher nicht gefunden.
»Ich bringe Geld. Leicht verdient.«
»Leicht verdient ist es nie.« Der Greis drückte sich an ihm vorbei in die Werkstatt. Er hatte die Fackel in der Hand und zog sich im Gehen das Wollhemd über seinen verschrumpelten Hintern. Rungholt konnte die Sickergrube an ihm riechen.
»Solltest abschließen, wenn du auf den Balken gehst.«
»Wer klaut so ’m Greis schon die Arbeit?«
»Die Zeiten sind hart.« Rungholt reichte ihm den Lederstiefel, den er sorgfältig von Erde und Unrat befreit hatte, und musterte den Greis. In dieser Nase, dachte er, kann man einen ganzen Ochsenkarren verstecken. Sein Mund war ein dunkles Loch, alle Zähne längst ausgefallen. Der Alte wischte sich die Finger an seiner Lederschürze ab und setzte sich ächzend auf den Schemel, wobei er den Stiefel wie eine Pfeife hielt.
»Ich war heute auf dem Markt. Wie leergespült. Die Hungersnot und der Regen. Es waren bloß vier Händler da.«
»Ich hab meine Vögel.« Der Greis nickte in Richtung seiner Schlafstatt, und erst jetzt, im milden Schein der Fackel, erkannte Rungholt vier Holzkäfige. Sie waren alle nicht größer als zwei Backsteine. Lerchen saßen darin. Sie machten einen trostlosen Eindruck, hatten sich kahl gehackt und hockten steif auf ihrem Stöckchen.
»Schöne Vögel«, log Rungholt.
»Ganz zauberhaft, ja … Im Gegensatz zu Eurem Stiefel.«
»Ach?«
»Wüsste nicht, was ich daran flicken sollt. Ist die liebe Müh nicht wert.«
»Ich habe ihn gefunden und suche seinen Besitzer.«
Grübelnd drehte der Schuhmacher ihn noch einmal im Fackelschein hin und her. »Oh, das ist interessant«, meinte er, nachdem er den Stiefel halb umgekrempelt und tief hineingeblickt hatte. »Eisenkappen. Hm …«
»Ist mir auch aufgefallen. Vorne ist er verstärkt, nicht?«
»Ungewöhnlich. Sicher unbequem, aber kein schlechter Einfall, um die Zehen zu schützen.« Der Mann kratzte seinen Bart. »Sieht mir nach dem Stiefel eines Soldaten aus … Hmmmm … Oder eines Köhlers … Ein Mann von der Glashütte vielleicht?«
»Hier in Lübeck? Wird Glas nicht im Erzgebirge …«
Der Alte winkte ab. »Ihr wolltet meine Meinung hören. Ich kann auch piepen wie meine Schätzchen oder ganz den Schnabel halten.« Er lachte kehlig.
»Nein. Nein, fahrt fort.«
Der Schuhmacher verzog sein zahnloses Loch zu einem Grinsen. »Seht
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